(pssst, nicht vor dem Lesen nach unten scrollen, Spoileralarm!)
Der Kuss
Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er sie kennen gelernt hatte. Aber er erinnerte sich daran, dass sie sehr schüchtern auf ihn wirkte. Denn als er sie ansah, war sie ihm ausgewichen. Einige Zeit später erst kam sie ihm allmählich entgegen und öffnete sich ihm.
Heute waren sie nun schon fünf Jahre zusammen, hatten sich auch in der gemeinsamen Wohnung zusammengerauft. Anfangs war es zu kleinen Machtkämpfen gekommen, die aber auch schnell ausgelebt waren. Sie hatten sich fast von selbst erledigt und man hatte zu einem trauten Zusammenleben gefunden.
Heute erst nach all den Jahren war es nun zu diesem einen, ersten Kuss gekommen. Ein Kuss, zwar in Freundschaft, aber ein Kuss. Er hatte ihr wieder einmal tief in ihre sanften Augen gesehen, ihre Wangen mit seinen Händen gehalten und ihr dann einen sanften Kuss auf ihre Stirn gehaucht. Sie hatte ihn ebenfalls angesehen, aufmerksam, fast ein wenig fragend und sich den Kopf ohne Wehr führen lassen.
Nun lagen sie beide hier und träumten vor sich hin. Träumten von ihrer gemeinsamen Zeit und davon, was sie gerne mochten, gerne aßen, gerne fühlten.
Er dachte daran, wie er mit ihr, auf den von ihr so beliebten Sparziergängen unterwegs war und sie einmütig nebeneinander gingen. Manchmal kein Wort dabei sagend, einfach nur schweigend und einträchtig liefen und lauschten, in die schöne Natur um sie herum. Wie und was er dann fühlte, war schwer zu beschreiben. Er fühlte sich ihr dann nah und machte wieder und wieder herzerweiternde tiefe Atemzüge, sich an der Schönheit der Situation erfreuend, diese bewusst genießend. Er liebte sie. Das wusste er, das empfand er auch.
Wenn er sie ansah, sah er in rehbraune Augen, in die er lange und tief blicken konnte. Sie hielt seinem Blick gerne stand, denn sie sah auch in Augen, die ihr angenehm waren.
Ihre dunklen Haare sind hell gesträhnt. Sie hat kräftige Haare, die sie einfach und natürlich trug. Sie kann viel ausdrücken, ohne etwas zu sagen. Sie guckt einfach mit einem Nachdruck, der keinen Zweifel lässt. Sie kann fordernd sein, aber meistens ist sie eine ruhige Lebensgefährtin.
All das genoss er sehr. Diese Eintracht war unbeschreiblich und er kannte so etwas vorher einfach nicht.
Ihre langen Beine sah er gern und ertappte sich auch immer wieder, dass er ihren federnden Gang bewunderte. Ob das auch anderen Menschen auffiel, fragte er sich oft?
Sie war außergewöhnlich sportlich, manchmal trieb sie ihn zu einem kurzen Spurt an oder sprang elegant über umgestürzte Bäume, was er sich nicht zutraute. Dann stand sie auf der anderen Seite und sah ihn leicht ungläubig, ob seiner Vorsicht, an. Aber nie ein Vorwurf, sie akzeptierte einfach, dass er anders war, dass er nicht so sportlich sein konnte wie sie.
Und dann diese Eifersucht, die sie manchmal zeigte. Wie sie manchmal andere weibliche Wesen maß und fast angriffslustig auf sie zuging. Man konnte annehmen, dass sie kein weiteres weibliches Wesen in seiner Nähe hätte dulden wollen. Oder bildete er sich das nur ein? War das nicht doch ein Beweis dafür, dass es ihr so gehen musste, wie ihm? Hatte sie auch eine große Zuneigung für ihn? Darüber wussten sie nichts, obwohl sie nun schon Jahre zusammenlebten. Er konnte einfach nicht darüber reden mit ihr und wollte das auch eigentlich nicht.
Wenn er manchmal in sehr vertraulichen Situationen ihren Kopf mit beiden Händen hielt und ihr über die Augenbrauen strich und dabei zärtlich und tief in ihre Augen sah, war nie mehr passiert. Das stand nicht zur Diskussion. Das Verständnis der Beiden beruhte auf einer unausgesprochenen Zuneigung zwischen ihnen.
Und nun war es heute zu diesem einen, unverdorbenen, fast jungfräulichen Kuss gekommen, deren Bedeutung sicher Beiden im Kopf wirre Gedanken auftrieb.
Auftrieb wie ein morastiger Seeboden, das Wasser trübte, wenn man es durchschritt.
Und wenn er ihr dann durch ihr Haar strich und dieses sehr gerne berührte, dachte er nicht bewusst daran. Nicht daran, dass diese Berührungen in anderem Zusammenhang, anderer Bedeutung waren. Sie verletzten nicht die Unschuld dieser besonderen Gemeinschaft zwischen den Beiden.
Manchmal, wenn sie Beide da so vor der Couch lagen, er sie in seine Arme nahm und hielt, hatte es bisher auch keiner Worte bedurft, die erklärten, was gar nicht in Frage gestellt wurde. Sie genossen ihre Nähe, ihre Körperwärme. Sie lauschten ihren Atemgeräuschen und entspannten total. Eine Atmosphäre totalen Vertrauens lag zwischen ihnen. Es entstanden keine Ansprüche, keine Erwartungen an irgendetwas, was dazu in der Lage gewesen wäre, zu enttäuschen und zu verletzen.
Ihre Ohren kitzelten dann seine Wange und die Welt war in Ordnung. Manchmal dachte er dann, wie lange wird dieses Verhältnis andauern können? Muss es nicht irgendwann einmal zu Ende sein? Kann er diese Zeit irgendwie verlängern, die Zeit der Zweisamkeit?
Eine Entzweiung wollte er sich nicht vorstellen, er wurde traurig. Wenn er sich einen Abschied für immer vorstellte, kamen ihm sogar die Tränen.
Nie hätte er geglaubt, dass diese Freundschaft ihm so viel bedeuten könnte.
Jetzt lag er mit seinem rechten Ohr auf ihrem warmen und festen Bauch und lauschte auf die leisen kollernden Geräusche, die hin und wieder aus dem Inneren drangen. Er überlegte, ob ihr sein Kopf zu schwer werden könnte und genoss die Wärme ihres Körpers an seinem Ohr.
Sie schien zu schlafen, war in dieser Lage einfach eingeschlafen. Er amüsierte sich über diese Kombination von leisen Verdauungsgeräuschen ihres Bauches und seinen eigenen wirren Gedanken, die an Arbeit und Alltag dachten.
Er dachte an die Zeit, die so unerbittlich ihres Weges schritt. Die Zeit, die sich durch nichts aufhalten ließ. Er dachte dabei an ein Zahnradgetriebe, dass knirschend unaufhaltsam sich vorwärtsbewegte. Zahn für Zahn griff es in die nächste Führung und drehte die Apparatur ohne jeden Zweifel weiter. Bei solch einer Maschine könnte man vielleicht etwas zwischen die Zähne klemmen, eine starke Bohle oder eine Eisenstange, wie es in manchem Abenteuer- oder Actionfilm zu sehen war. Aber die Zahngetriebe der Zeit würden die stärksten Holzbalken zermalmen und sich erbarmungslos weiterdrehen. Es gibt in diesem Leben einfach nichts, was dieses Zahngestänge aufhalten könnte. Sie drehen sich Jahre, Jahrhunderte auch noch, wenn niemand an ihn hier und sie, ihren Bauch und dessen zärtliche Glucksgeräusche denken würde. Ja selbst, wenn es keine Säugetiere mehr auf der Welt gäbe, würde sich das Getriebe der Zeit ächzend, nie rostend, weiterbewegen. Er war kurz eingeschlafen und schreckte wieder hoch.
Er hörte ihr schweres Atmen im Schlaf. Er strich ihr zärtlich über die Wange.
Aber warum machte er sich diese krausen Gedanken? Weil er genau wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie war es, die nach den Regeln der Physiologie der Körper früher als er sterben musste. Sie, die er so liebte, in dieser schönen platonischen, zu nichts verpflichtenden Art. Sie, die ihm so tief in die Augen sehen konnte und ständig seine Nähe suchte. Sie, mit der sanften empfindlichen und eigentlich sehr großen Nase. Die, die immer Zeit für ihn hatte und nie böse war, wenn er sie mit seinen Gefühlen überfiel oder aus dem Schlaf neckte. Sie, die ihm bei allen Ausführungen, egal ob sinnig oder nicht, zuhörte und aussprechen lies. Nie hatte sie widersprochen. Er kitzelte jetzt ihren Bauch, zog an ihren Zehen, streichelte sie zwischen ihren Schenkeln bis sie endlich wach war und ihn anblinzelte und zärtlich seine Hand leckte.
Sie, seine fünfjährige Jagdhündin „Cleo“.
Geheimnisse
Da saß er nun im Schneidersitz auf dem Fußboden des Korridors. Die Hände mit Schuhcreme beschmiert, blätterte er in dem Ordner, der ihn aus der untersten Schuhregal-Reihe angeknurrt hatte. Warum befand sich dieses Büroungetüm im Schuhschrank?
Nur seine Mutter konnte ihn dort hineingeschoben haben. Oder?
Warum?
Viel verstand er nicht. Bis er zu einem Blatt kam, das eine große Überschrift trug. Er las sie ganz langsam. Blätterte weiter und entdeckte seinen Namen.
Der Junge rieb sich das Kinn, dann kratzte er seine Stirn. Die Lippen fest zusammengepresst. Was bedeutete das? Wussten die Nachbarn, die Lehrer, die Mitschüler auch von diesem Blatt? Ihm lief eine heiße Welle vom Nacken durch den ganzen Körper. Die Ohren glühten jetzt.
Er blätterte weiter.
Viele Worte begriff er nicht, wie eine Fremdsprache. Der Junge schlug den Aktenordner zu und atmete heftig. Musste er Beatrice und Angelika mit anderen Augen ansehen?
Zwei Mädchen betraten den Korridor. Schnell schob er den Geheimnisbehälter wieder in das Fach für Schuhe.
„Bist Du fertig? Hast Du meine Schuhe auch geputzt?“, fragte die eine. Die andere schaute ihn mit großen Augen an. Sie umarmte ihn.
„Du bist aber fleißig!“, juchzte sie in sein Ohr.
Der Junge hielt seine jüngste Schwester fest und beschloss, dass es egal sei, was er eben gelesen hatte.
Er lächelte breit, Harmonie mit seinen Schwestern, seiner Familie. Geborgenheit und vertrauter Duft.
Er erhob sich und kitzelte beide Schwestern. Sie lachten und alberten. Warfen Schuhe aus dem Schrank durch den Korridor.
Als das Schloss der Wohnungstür knackte, sprangen sie durch den Raum und räumten auf.
„Na meine Großen, wart ihr auch artig?“, begrüßte sie ihre Mutter und verteilte Feierabend-Küsschen, die wie Bonbonpapier knisterten und süß schmeckten. Dann verschwand sie in die Küche.
Am Abendbrottisch beobachtete er seine Schwestern, seine Mutter. Er kannte die Bewegung der Kleinen genau, wenn sie ihre vielen widerspenstigen Locken immer wieder hinters Ohr schob beim Essen. Er schmunzelte über das Sortieren der einzelnen Bestandteile der Mahlzeit durch die zweite Schwester. Sie baute wieder einen Soßenkanal im Kartoffelbrei. Er genoss den lächelnden Gesichtsausdruck seiner Mutter, wenn sie von einem zum anderen blickte.
Papa konnte er nach dem Hefter nicht fragen, der war auf Montage, was weit weg bedeutete. Würde er seine Mutter später ansprechen? Mutti, was ist das für ein Blatt im Aktenordner? Nein, er würde sie nicht beunruhigen. Vielleicht hat ja doch nicht sie den Ordner dort versteckt? Könnte ja sein, nur sein Vater wusste davon?
Er würde in den Ferien Opa fragen! Breit grinste er bei dem Gedanken und hieb sich auf den Schenkel. Alle drei am Tisch sahen ihn an. Er zuckte mit den Schultern und grinste.
Von seinem Teller schob er eine Frikadelle auf den Teller der Jüngsten, die mochte sie so sehr. Muttis Bouletten! „Hier kleine Beatrice, damit Du groß und stark wirst!“ Alle lachten.
Und er murmelte im Kopf immer wieder diese Überschrift, sie nicht zu vergessen:
„Urkunde über die Annahme an Kindes statt“.
Mycelien
Die schwarze Kugel lag in ihrer Hand und vibrierte. Ein Glanz, der eine Sogkraft hatte, ging von ihr aus. Ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Kugel schien unendlich weit entfernt und doch so klar wie eine HD-Projektion. Sie lächelte:
„Guck´ mal, Oma; was ich dir mitgebracht habe!“.
„Was ist das?“, fragte die alte Frau und ging mit ihrer Lesebrille auf Zoom, ihr Kopf neigte sich nach vorn. Die Haut am Hals straffte sich.
„Ich habe das hier im Wald gefunden! Lag dort, und strahlte mich an.“
„Schwarze Strahlen? Das Ding ist ja pechrabenschwarz!“
„Nein, Omi, ich meine es eher metaphorisch. Ich finde, es sieht magisch aus. Wo können wir es platzieren?“.
Martha ergriff die Kugel, drehte sich um ihre eigene Achse und schüttelte den Kopf. Die Kugel wanderte nun auf Bauchhöhe von einer Hand in die andere. Langsam schritt die Alte durch den Raum. Am Sideboard, vor einer Kristallschale blieb sie stehen und legte die Kugel wie ein Ei, ein Straußenei, in die Schale. Dann drehte sie sich zu Sophie und lächelte: „Vielen lieben Dank, meine Süße, du hast schon immer merkwürdige Dinge aus dem Wald mitgebracht. Ich werde gut auf die schwarze Kugel achten. …“
Lange plauderten sie an diesem Abend, bevor die Enkelin sich verabschiedete. Das Scheinwerferlicht verschwand hinter der Wegbiegung im Dunkel. Martha schloss die Vorhänge und trabte gähnend ins Bad. Danach ging sie noch einmal an die Schale, in der das makellose Rund lag. Mit dem Zeigefinger klopfte sie gegen die feucht aussehende Oberfläche. Die Kugel bebte wie ein vibrierendes Mobilteil. Martha klopfte noch einmal. Da hörte sie ein kleines Knacken, als würde man zu früh die Eisfläche eines Teiches betreten. Erschrocken wich sie zurück. Dann schlurfte sie davon. Jetzt wartete ihr Bett schon ungeduldig.
Am nächsten Morgen schepperte das Kaffeegeschirr, als es auf dem Boden zu Bruch ging. Martha hielt beide Hände vor ihren Mund, als wolle sie den Schrei, der herausstürmte, gefangen nehmen. Ihr Blick folgte einer schwarzen Bahn aus Fäden eines Gespinstes, welches sich von der Kugel wie Keimlinge oder Zweige in Richtung Kamin bewegte. Die Fäden schwangen und knisterten leise. Sie bewegten sich wellenförmig, als wollten sie sich recken und Martha konnte genau sehen, wie sie sich dabei in die Länge dehnten. Sie dachte an Insektenfühler, die sich ihren Weg ertasten. Oder Tentakeln eines Kraken. Im Kamin endeten die Fäden. Also dort bewegten sie sich hinein. Es waren viele. Sie waren untereinander verbunden. Ein Gespinst ähnlich eines Myzels oder dem einer Schimmelkultur auf altem Brot. Wie Hyphen ein Geflecht bilden, so entstand hier auch dieses Gebilde. Nur das dies hier schwarz gelackt glänzte, pulsierte und einen süßen Duft verströmte, den Martha genüsslich einatmete. Langsam ging sie auf das Gespinst zu. Schritt es ab, bis zum Ursprung an der Kugel. Als sie auf Höhe der Kugel ihre Augen nah an den Ursprung, die Quelle, rückte, konnte sie erkennen, dass die Fasern aus einem kleinen Riss in der Kugel quollen und scheinbar junge Triebe immer noch folgten. Die jungen fadenförmigen Zellen hangelten sich an den stärkeren entlang. Es sah magisch aus. Und der liebliche Duft machte es irgendwie schön. Schön und gruselig zugleich.
Marthas Zeigefinger näherte sich der kleinen Wunde in der Kugel, doch diese drehte sich weg, als wolle sie die Berührung vermeiden. Erschrocken zog die alte Frau ihren Finger zurück. Martha lauschte. Das Knistern war wie ein feines Wispern. Der Ton war nur zu hören, wenn Martha ihr Ohr exakt ausrichtete. Bewegte sie ihren Kopf verschwand das Geräusch.
Martha setzte sich auf ihren Sessel und besah ihr Frühstück auf den Fliesen, wo sie das Tablett hatte fallen lassen. Sie überlegte. Wen könnte sie anrufen, wen herbitten, sich diese Pflanze oder dieses Wesen anzusehen? Was sollte sie tun? Berühren wollte sie es nun nicht mehr. Und sie hätte auch nicht gewusst, womit sie das Gebilde entfernen könnte.
Ruckartig schnellte sie auf und ging hinaus. Nach einigen Schritten stand sie wieder vor der Kugel und hatte Handfeger und Müllschippe in den Händen. Mit dem Handfeger versuchte sie die Kugel auf die Schippe zu schieben. Die Kugel versteifte sich. Nein, die Fäden versteiften sich und hielten so die Kugel. Es machte keinen Sinn. Mit dem Handfeger ging sie an einen sehr zarten Faden und zog diesen. Der Faden dehnte sich wie Gummi. Nach einigen Zentimetern platzte er. Beim Zerreißen entwich eine schwarze Staubwolke. Dieser Nebel senkte sich auf die Fliesen. Martha sah kopfschüttelnd zu. Die Masse rann zusammen wie Quecksilber und bildete auf dem Boden mehrere kleine Kügelchen.
„Was ist das für ein Quatsch?“, murmelte die Alte und ging einige Schritte zurück.
Sie telefonierte mit der Auskunft. Einige Telefonate später hatte sie eine Dame am Apparat, die sie fragte, ob ihr schwindelig sei oder sie heute schon etwas getrunken hätte. Martha legte den Hörer wütend auf.
Sie ging in ihre Stube zurück. Jedoch weit kam sie nicht. Der Raum war mehr als dreiviertel mit schwarzen Fasern gefüllt, die alle zum Kamin strebten.
Martha eilte vor die Tür ihres Hauses und blickte hinauf zum Schornstein. Was sie dort sah, ließ ihren Atem stocken. Wie gebannt starrte sie auf die Fläche. Eine dicke schwarze Wolke hatte sich vom Dach in Richtung Norden ausgebreitet und bedeckte Wiese, Weg, Waldrand. Sie schätzte die Fläche fünfmal so groß wie ihr Grundstück ein und höher als die alte Buche, die am Wegrand stand. Was zur Hölle ist das?
Mit kurzen eiligen Schritten rannte sie in das Haus zurück und rief bei der Polizei an. Der Beamte hörte ihrer keuchenden Beschreibung geduldig zu und ermahnte sie immer wieder langsam und deutlich zu sprechen. Er fragte, was für eine Wolke, wie groß, ob sie stinke, ob es sich um einen chemischen Unfall handele, wie alt Martha sei, ob sie allein lebe, ob Martha verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen müsse, ob sie Verwandte anrufen könne, die sich um sie kümmern. Martha beendete wortlos die stoisch gestellten Fragen durch Auflegen.
Nun wählte sie die Nummer ihrer Enkeltochter: „Sophie, die schwarze Kugel hat sich als Ungetüm entwickelt und spinnt hier die gesamte Landschaft wie eine dicke Spinne ein oder so ähnlich. Kannst du so lieb sein und mal herkommen? Ich habe Angst.“
„Omi, was redest du denn? Was soll die Kugel gemacht haben? Muss ich mir Sorgen machen? Halluzinierst du? Soll ich einen Notarzt rufen und schicken?“
„Nein, wirklich, bitte liebes Kind, komm´ so schnell du kannst und schau dir das an, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ein Arzt kann hier nicht helfen, mir geht es gut. Die Kugel spinnt… im wahrsten Sinne des Wortes!“
„Oma, okay, ich komme morgen. Heute habe ich noch ein Meeting, das sehr lange andauern wird. Also heute schaffe ich das nicht, aber morgen komme ich. Lass alles, wie es ist. Ich räume es dann weg. Fass nichts an, egal was da bei dir ist.“
„Du hast gut reden, du scheinst nicht zu verstehen… hier ist alles überwuchert.“
„Oma, geh, leg dich hin, und wenn es dir nicht gut geht, rufe einen Notarzt bitte.“
Martha hatte den gesamten Tag keine Ruhe. Sie aß wenig und beobachtete immer wieder, wie sich die schwarze Masse ausdehnte. Irgendwann begann sie einen Koffer zu packen und stellte den in den Flur. In das Wohnzimmer konnte sie nicht mehr eintreten, es war schwarz gefüllt. Die Masse dehnte sich durch die Türfüllung wie ein Hefeteig, der sich aufblähte. Jedoch war es keine zusammenhängende Masse. Es sah eher aus wie ein schwarzer Kokon.
Martha schloss die Flurtür ab und schob den Schuhschrank davor. Sie ächzte. Dann ging sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Ein Nachthemd hatte sie nicht an, sie schlief mit ihrer Tageskleidung.
Nach turbulenten Träumen, die sie einige Male hochschrecken ließen, stand sie am Morgen schwerfällig auf. Sie öffnete die Schlafzimmertür und sah in ein schwarzes Etwas, was den gesamten Flur eingenommen hatte. Eilig lief sie zurück und griff nach dem Mobilteil ihres Telefons. Sie wählte. Ein Ruf war zu hören.
„Ja bitte!“, erklang die gehetzte Stimme ihrer Enkeltochter. „Sophie, ich sehe hier nur noch Schwarz, was soll ich nur machen?“, wimmerte Martha.
„Nichts, warte bis die Behörden kommen. Hier in der Stadt ist heute Morgen auch alles schwarz überwuchert, ich weiß jetzt, wovon du sprichst. Niemand kann die Masse durchdringen. In den Nachrichten spricht man von einem Pilz. Man soll einen Mundschutz tragen und Handschuhe. Armee und Technische Brigaden sind schon im Einsatz. Und fass um jeden Preis das schwarze Zeug nicht an. Es gab Menschen, die sind nach Berühren selbst zu Kugeln geworden. Bis später Omi, ich muss jetzt ausweichen…“. Im Hörer gab es nur noch ein „Tut… tut… tut…“.
Martha suchte keuchend einen Schal aus dem Schubfach und sah aus der Gaube. Wie jeden Morgen gingen die beiden Sonnen auf und scherten sich um nichts, stiegen hoch über eine Landschaft in tiefem Schwarz.
b-Inhalt
Irgendwas ist immer by Bernd Kleber
Irgendwas ist immer
Also ich muss schon sagen, das war ja vielleicht was. Am Ende eskalierte alles fürchterlich und ich wusste gar nicht, wie ich ohne Scham wieder vors Haus gehen sollte…
Aber fange ich von vorne an. Mein Name ist Hilde Kalweit, ich bin in Berlin-Schöneberg geboren und habe immer Belle Etage gewohnt. Mein Mann war schließlich bis zur Pensionierung ein gut situierter Beamter.
Wir haben zwei Kinder großgezogen, die sind auch beide was geworden, da kann man als Mutter schon stolz sein.
Mein Hobby ist Backen. Ich habe mich jetzt auf Etagentorten spezialisiert und kreiere die schönsten Türme zu den Anlässen, die sich bieten.
Und nun erzähle ich Ihnen, was mir Peinliches passiert ist oder besser meinem Gatten. Denn ich war ja nicht schuld am Schlamassel.
Hach, wo fange ich nun bloß an?
Neulich haben wir unsere Freundschaft eingeladen: Erwin und Klara Ruhlstädt. Die wohnen zwei Straßen weiter und wir kennen sie schon viele Jahre. Durch unsre Kinder. Irgendwann ist daraus eine nette regelmäßige Kartenrunde entstanden. Doppelkopf oder auch manchmal Canasta und wenn ich mich gar nicht durchsetzen kann, langweiliges Rommé.
Ich liebe ja aber mehr die Kartenspiele mit Pep. Beim Rommé schlafe ich fast ein. Aber wenn Klara es sich einmal in den Kopf gesetzt hat, klimpert sie mit ihren unechten Hilde-Knef-Wimpern und die beiden Kerle fressen ihr aus der Hand. Sie achtet auch peinlichst darauf, die Männer nicht sehen zu lassen, wenn sie mir die Zunge herausstreckt. Miststück manchmal.
Also, es war Spieleabend geplant und ich mache dann so gerne einen Mettigel, flankiert von einem Käsehappenigel. Und mein Mann Herbert macht eine leckere gespritzte Pfirsichbowle. Da darf man ja auch nicht kleckern, wenn Freundschaft kommt. Da muss man schon bisschen klotzen.
Das Highlight ist jedenfalls meine Etagentorte. Die Torte schaffen wir ja nicht und auf den Zuckerhaushalt müssen wir auch achten. Aber ich will ja was anbieten. Die Klara staunt immer.
Aber ich merke, ich verplappere mich.
Ich also an dem Vormittag zur Halle. Dort kaufe ich alles, was ich benötige. Mett lasse ich gerne ganz frisch durchdrehen. Dann Käse, dazu die Cocktail-Kirschen und natürlich alles, was ich für den Tortenaufbau zugeben muss. Fondant, Marzipan, Lebensmittelfarbe, Mehl, Eier, gute Butter, na Sie ahnen es, es gibt zu tun.
Als ich aus dem Supermarkt komme, verfolgt mich ein ganzes Stück so ein Bengel, langer Lulatsch, schlurft dicht hinter mir. Ich die schweren Taschen. Bleibe ich einfach stehen. Drehe mich um und sehe ihn erstmal an, mit meinem Blick, da wissen die meisten gleich Bescheid. Guckt der depprig und fragt, ob er mir die Tasche tragen soll? Ich denke, keine blöde Idee… und sage: „… aber nur, wenn de die Beene hebst!“
Der lacht und lief nun wie Storch im Salat, freche Aasbande, die jungen Leute. Am Haus bleibt er stehen und fragt, ob er noch hochbringen soll. Da sage ich: „Junge, ick wohne Belle Etasche, dit schaffe ick alleene…“
Grinst er und bietet an: „Na Frau …, wenn ich wieder mal helfen kann…“
„Kalweit, junger Mann, Kalweit!“
Herbert meinte später, das war der große Fehler, herrjeh. Adresse und Name! Stehen ja auch im Telefonbuch.
Na egal. Ich mache alles zurecht, Herbert liest stöhnend und murmelnd Zeitung.
Als ich in der Küche fertig bin, fängt er wieder an. Ob ich schon vom Enkelbetrüger-Trick, von Überfällen, Einbrüchen und Vergewaltigung gehört hätte.
Aber ich bitte Sie, wer vergeht sich denn an einer älteren Dame wie mir? Diese Phantasie möchte man ja nicht haben. Ich beruhige ihn mühselig. Herrjemine, Männer!
Zum Glück kamen schon Erwin und Klara. Wie immer zu früh. Diesmal passte es, um Herbert ruhig zu stellen.
Wir tranken Kuchen und aßen Kaffee, nein, natürlich umgekehrt, verzeihen Sie bitte. Und man lobte wieder meine Torte, sie sei die beste von allen bisher… Ich sah mich unsicher um, da ich ja anscheinend jedes Mal die gelungenste abliefere.
Dann ging es ans Karten spielen. Ich hatte eine Gewinnersträhne, was Klara ziemlich sauertöpfisch dreinblicken ließ.
Als ich aufstand und ankündigte, ich würde schnell den Mett- und den Käseigel fertig machen, meldete sich Klara schnippisch, das würde sie heute nicht vertragen. Ich fragte: „Warum denn nich, meene Grundjute?“
Ja, sie hätte da was, muss ja nichts Ernstes sein, aber ihr wäre mehr nach Pizza und ohnehin fand sie ja im Briefkasten diese Speisekarte und brachte die mit und wolle das jetzt ausprobieren, Erwin und Herbert seien auch mal für Abwechslung.
Ich holte tief Luft und stemmte die Hände in die Hüfte: „Na, dat habt ihr euch ja jut ausjedacht!“
Dieses Biest, wann hatte sie das nur eingefädelt? Als ich die Torte hereingeholt hatte sicherlich. Und wer bezahlt den Italiener? Herbert ganz bestimmt. Na wunderbar!
Also bewaffneten wir uns mit unseren Lesebrillen und begannen zu studieren, was es auf der quietschbunten Karte des Italieners angeboten gab.
Ich entschied mich für eine kleine Pizza Salami. Die anderen wuselten vor und zurück, bis sie sich endlich festgelegt hatten. Klara orderte für sich dann noch Tiramisu, trotz meines Hinweises auf die Torte, die ja in Masse vorhanden war und reichlich Sahne enthielt.
Herbert meinte: „Hildchen, ruf mal an… du hast so eine schöne Aussprache!“ Das lehnte ich aber energisch ab, ich lasse mich ja nicht vollkommen für dumm verkaufen und legte die Bestellung Klara vor die Nase. „Das macht Klara gerne, war ja auch ihre Idee und sie wird dem Italiener schon was flöten…“, trug ich mit spitzem Mund hochdeutsch vor.
Alle lachten wir, außer Klara, die zu unserem Telefonhörer griff. Ich meinte, sie könne mein Mobiltelefon benutzen, dann müsse sie nicht so an der Hörerstrippe ziehen. Aber das wollte sie wegen der Strahlen am Kopf nicht.
Dann ging es hin und her, alles musste sie wiederholen. Das andere Ende verstand wohl schlecht. Am häufigsten rechtfertigte Klara sich, nur ein Tiramisu zu bestellen, obwohl wir doch vier Essen geordert hatten.
Dann fing Klara an, in Ihrem Handy etwas zu suchen. Ich fragte, was sie da krame. Sie schüttelte nur den Kopf und begann zu buchstabieren und aufzuzählen.
Ich bin erstmal raus, das kann ich ja nicht haben, solche Umstandskarnickel. Als ich wieder in die Stube kam, war endlich bestellt und ich räumte den Apparat in den Korridor.
Wir spielten weiter unsere Karten, ich ständig am Gewinnen, die Männer tranken Kurze und Klara ziemlich viel von Herberts Bowlen-Geheimrezept. Na, Sie können sich ja vorstellen, es wurde immer lauter.
Irgendwann klingelte es dann. Ich sprang auf, rannte zur Tür und nahm das Essen in Empfang. Natürlich haben wir allein bezahlt. Aber das merke ich mir, nächstes Mal bei den Ruhlstädts nehme ich die Speisekarte des Inders mit, die wir im Kasten hatten.
Wir ließen es uns dann schmecken. Ich hatte alles auf das Rosenthaler Geblümte aufgetan, bisschen Kultur muss schon sein. Klara wollte ihre Pizza gleich aus dem Karton fressen. Na aber auf keinen Fall, hier in der Belle Etage!
Dann spielten wir noch einige Runden, bis meine Frau Ruhlstädt meinte, sie hätte jetzt keine Lust mehr zu verlieren und würde nur noch eine Tasse Kaffee trinken und dann würde man sich nach Haus begeben wollen.
Nun musste ich also nochmal Kaffeegeschirr auftafeln, aber man macht es ja auch gerne, wenn man Besuch hat. Beim Räumen fiel mir dann das Handy vom Tisch.
Ich hob es auf und bemerkte, dass es einen nicht gehörten Anruf gegeben hatte. Das Ding war auf stumm geschaltet. Ich also schaue genauer nach, man kann ja heutzutage alles kontrollieren, welche Nummer, welcher Name und welche Zeit.
Die Nummer kannte ich nicht. Das wunderte mich dann schon ein wenig. Wer ruft bei mir denn am Samstagabend an? Es gab eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter von diesem Gerät, eine Technik heutzutage, ja?!
Also, ich rief da an, schaltete den Lautsprecher ein und eine Stimme war zu vernehmen: „Frau Kalweit, hallo, hören Sie mich, hm… okay, ich rufe später nochmal an. Hallo? Hallo?“
Herbert holte tief Luft und sah hin und her, erst zu Erwin, der mit den Schultern zuckte, dann zu Klara.
Sie dann: „Na, was weiß ich denn, welche Männer Hilde so kennt, Ich sag´ nur, Hilde, die wilde!“
Herbert schnaubte, ich noch mehr: „Klara!“
Sie: „Na ja, ist doch so!“
Herbert riss mir das Telefon aus der Hand und drückte auf Wiederholung der Nachricht. Dann sah er mich an: „Wer ist das Hilde, sag!“
„Wees ick doch nicht! Lasst uns jetzt Kaffee trinken.“
Herbert meinte: „Ruf zurück, vor unseren Augen und Ohren…!“
Ich: „Nein, hör auf!“ Herbert fuchtelte mit dem Handy herum und konstatierte: „Dann mache ich das!“
„Sach mal, spinnst du jetzt? Derjenige wird sich schon nochmal melden, wenn es wichtig ist! Vielleicht war it der nette Junge von heute Nachmittag, der meene Einkäufe jetragen hat.“
Herbert lief rot an. „Oder ein Enkeltrick-Betrüger!“
Klara juchzte auf und hielt sich ihre Hand vor den Mund. Erwin rief: „Ruf den an und wir rufen die Polizei!“
Ich erwiderte noch: „Kommt ja jarnich in Fraje, hört uff jetze!“
Aber da hatte er schon die Rückruftaste gedrückt und den Lautsprecher an und alle drei hielten den Atem an.
„Ja bitte?“, hörte man einen jungen Mann.
Herbert brüllte los: „Was fällt Ihnen ein, hier anzurufen? Verfolgen Sie meine Frau?“
Vom anderen Ende war nun zu hören: „Hallo, wer ist denn dort überhaupt?“
„Kalweit, Herbert Kalweit! Und wir sind keine wehrlosen Rentner! Wir fallen auf Sie nicht rein!“, schrie Herbert.
Mir wurde ganz heiß.
Und dann, „… wir brechen Ihnen die Beine, und rufen die Polizei …“, fügte Erwin an.
Ich setzte mich in den Sessel und sah meinen zitternden Herbert an … und nun fiel es mir ein…
„Der Italiener! Herbert, der Italiener!“
Herbert verstand nicht, aber wir hörten: „Hallo, was sind Sie denn für ein alter böser Mann, ich hatte angerufen, um die Lieferung bestellter Speisen anzukündigen! Bestellen Sie hier bitte nie wieder etwas, Sie haben ab jetzt Hausverbot!“. Dann legte der auf.
Herbert sackte zusammen und Klara flüsterte: „Hausverbot. Wie peinlich ist das denn?“
Na, der Abend war gelaufen! Aber auch gut, ich sage nur: „Mett- und Käseigel.“
Schmetterlingseffekt by Bernd Kleber
Schmetterlingseffekt
Leben allein genügt nicht,
sagte der Schmetterling.
Sonnenschein, Freiheit
und eine kleine Blume
muss man auch haben.
(Hans Christian Andersen)
Grenzenlose Ungerechtigkeit
Der Falter ganz zartgezeichnet mit leuchtendem Blau auf gepudertem braunen Grund, wie ein Auge in einer imposant schwingenden Feder, erhob sich, flatterte zur nächsten Blüte und versenkte im Blütenkorb seinen Rüssel. Er sog süßen Blütensaft, schmatzte ein wenig, wenn man genau hinhörte. Unerwartet rauschten zwei große Fangarme vor, bewaffnet mit spitzen Dolchen, die sich tief in seinen Rumpf gruben, die Flügel zerschnitten, brachen und den Schmetterling-Körper in einem rasenden Tempo durch die Luft zogen. Der kleine Leib prallte gegen scharfe Fangzähne und ohne eine Pause, fingen die an, hastig zu nagen. Der Schöne war in Sekunden von der Gottesanbeterin aufgefressen.
Kai sah das alles und ein angewiderter Schauer überlief seinen Rücken, bevor er seinen Bruder Tim beobachtete, als der Kais Board in die Höhe warf. Schnell erhob er sich aus der Hocke und blickte ihm hinterher. Der Ältere lachte laut, hob seine rechte Faust, aus der ein Mittelfinger in den Himmel zeigte.
„Heul doch!“, rief Tim.
Kai rief seinem Bruder zu: „Tim, warum bist du so? Ich habe dir nichts getan!“.
Aber der lief und verschwand um die nächste Ecke.
Grenzenlose Wut
Nun sah er zu der Glasscheibe, die so hoch war, wie er selbst. Auf der anderen Seite erblickte er sein Skateboard hinter einem Grasbüschel, kaum zu erkennen. Nur wer genau hinsah, entdeckte es. Wie eine Rampe angelehnt. Kai weinte nun tatsächlich.
Wut kroch wie ein Drachen mit stampfenden Schritten in seinen Magen und von dort in den Bauch. Bei jedem Tritt krampfte sich sein Körper zusammen. Er schrie und trat gegen die Scheibe. Sein Bruder war weiter gegangen, ein Monster. Was sollte er tun? Er trampelte nochmals gegen das Sicherheitsglas und fluchte. Da griff ihn etwas fest am Kragen, er wurde kurz in die Luft gehoben. Ein Dunst nach altem Bier umwehte ihn. Kai hustete und zappelte. Der Kerl, der diesen Geruch verursachte, ließ ihn auf den Boden herunter, aber lockerte seinen Griff nicht.
„So junger Mann, so etwas können wir hier ja gar nicht gebrauchen. Komm mal schön mit. Ich bringe dich noch raus, aber dann lass´ dich hier nie wieder blicken.“
Kai protestierte, strampelte und ungeahnte Kräfte stiegen auf, die ihm nichts nutzten. „Mein Board! Mein Board!“
Da war er schon vor dem Eingang des Geländes und der Angestellte rief der Aufsicht zu: „Den lasst Ihr hier nicht mehr rein!“
Das Skate-Board war verloren.
Grenzenlose Kreativität
„Ey, hallo, hört zu! Wir brechen aus. Wir könnten tun und lassen was wir wollen, am anderen Ende der Wüste aus Stein liegt das Paradies. Glaubt mir! Ich sah es vom hohen Turm und kann es riechen. Dahin ziehen wir heute Nacht um.“
Sie redete und redete, alle Clanmitglieder saßen um den hohen Turm herum und horchten gebannt zu. Einige waren aufgeregt. Andere ungläubig. Aber solange sie, Lucia, es sagte, würden alle folgen.
Lucia teilte die Gruppe ein. Sie waren zehn Mitglieder. Der dicke Max sollte auf dem Turm Ausschau halten und pfeifen, sobald Gefahr drohen würde. Elsa würde ihn unterstützen und ihm Mut machen, wenn seine Angst vor Dunkelheit sich einstellen würde. David erhielt die Aufgabe, die Rampe zu stützen, sodass sie nicht wegrutschen könne. Erwin würde die Mütter so lange in der Gruppierung beruhigen, bis sie mit ihrem Nachwuchs an der Reihe waren. Der Plan stand.
„Besonders wichtig ist, wichtiger als sonst, denn es geht um Leben und Tod, dass ihr nur auf mein Kommando hört und erst geht oder rennt, wenn ich es sage! Prägt euch das ein!“
Lucia beugte sich nach vorn und blickte jedem eindringlich in die Augen. Ihre Nase wackelte vor Anspannung. Jeder nickte rasch, zu allem bereit.
Die Freiheit rief!
Die Nacht kam, die Chefin pfiff einmal kurz. Alle erhoben sich wie auf Kommando und guckten blinzelnd zu ihr hinüber. Sie lief los, lief schneller, sprang auf die Rampe und flog in hohem Bogen über die bisher unüberwindbare Grenze. Die Zurückgebliebenen schwiegen, sahen sich ratlos an und warteten wie auf ein Wunder. Dann ein heller Pfeifton, deutlich von der anderen Seite.
Es dauerte gar nicht lange. Alle ermutigten sich gegenseitig und flogen, segelten, übersprangen die Begrenzung. Nun war Max als Letzter an der Reihe. Er rief: „Ich komme!“ Dann nahm er Anlauf, rannte so schnell er konnte, sah auf die Schanze, wusste, dass er rechtzeitig abspringen müsse. Sprang! Landete auf der Schanze, lief weiter bis zum Ende, hüpfte wieder, wie auf das Brett eines Wassersprungturmes und flog… flog… kugelte eher… überschlug sich… schrie… Und endete auf der Mauer, oben auf. Zwei Gliedmaßen zeigten in die Freiheit, zwei hingen auf der anderen Seite. Alle lachten. Er sah zu ihnen hinunter und äffte sie nach: „Ha, ha…!“
Dann ließ er sich zu seinen Gefährten abgleiten, langsam und vorsichtig. Eine unheimliche Ruhe lag jetzt über dem Gelände.
Mit kleinen wachsamen Schritten schlichen sie fast in einer Reihe durch das Außengelände, welches sie jeden Tag gesehen hatten, aber doch unerreicht gewesen war.
Bei den Nachbarn war Ruhe.
Die Chefin hielt an und blickte hochaufgereckt nach links und rechts. Auch hier war Stille…
Dann rannte sie pfeifend los, alle anderen folgten ihr. Der Untergrund war glatt und warm, roch giftig wie verbrannte Erde. Der Jüngste musste husten, lief jedoch tapfer weiter.
Endlich waren sie angekommen, wo das offerierte Paradies zu finden war.
Grenzenlose Freiheit
Lucia begann sofort zu graben und machte deutlich, dass jeder sein Scherflein beitragen müsse. So müde sie waren, sie gruben die ganze Nacht. Dann war es endlich geschafft. Die restliche Zeit bis zum Morgengrauen schliefen sie erschöpft ein, dicht beieinanderliegend, wärmten sie sich gegenseitig.
Einige Stunden später startete die Anführerin mutig in den Tag, betrachtete das Areal und scannte gebannt den Himmel. Die Luft war rein, nichts Ungewolltes geschah. Sie sprang auf eine Erhöhung, nahe dem Eingang ihrer neuen Unterkunft und wartete.
Da kamen die ersten Kinder und hockten sich vor sie hin. Gespannt sahen sie sich an. Das war aber nichts Unbekanntes. Sie kannten es, dass junge Menschen unweigerlich von ihnen gebannt waren. Sie mussten nur mit den Augen blinzeln, ihre Arme ein wenig recken, schon waren die Kleinen nicht mehr von ihnen fortzubewegen. Das erste Kind warf einen halben Keks, das zweite Streuselkuchenkrümel. Alles sammelte die Bande ein und was nicht sofort verputzt wurde, legten sie beiseite.
Über dem Platz lag ein unheimlich süßer Duft von all den Leckereien, die den gesamten Tag unter Jubel und Kichern sowie erstaunten Rufen, ihnen zugeworfen wurden.
Sie beschlossen, in der Nacht genauer zu erkunden, wo der betörende Geruch seine Quelle hatte, und gruben sich näher und näher an den Ursprung.
In einer dicken Felswand, am Ende ihres Stollens, entdeckten sie ein Loch, durch das sie einigermaßen passten und fanden sich in einem gekachelten Raum wieder. Hier strömte der Duft so intensiv, dass es ihnen fast die Sinne raubte. Man wähnte sich im Schlaraffenland.
Sie aßen die ganze Nacht von allerlei Leckereien und waren ungestört. In den frühen Morgenstunden, bevor die Sonne aufging, vernahmen sie dann klappernde Geräusche und huschten aufgeregt durch das Loch wieder zurück in Richtung Unterkunft. Der dicke Max hatte Schwierigkeiten, sich durch die enge Öffnung zu zwängen. Er steckte fest. Mit vereinten Kräften zogen und zerrten sie ihn dann, untermalt von einem Plop-Geräusch, aber frei.
Am nächsten Tag erhielt er die Aufgabe, den Ausguck zu besetzen und Schmiere zu stehen. Das konnte er am besten, da brauchte er sich nicht bewegen und war trotzdem beschäftigt. Die Laterne am Platz sorgte für notwendiges Licht. So war er tapfer und ausdauernd. Hinterher wurde er mit einer Auslese der edelsten Köstlichkeiten reichhaltig belohnt.
Eines stand fest, hier ließ es sich leben, alle Clanmitglieder waren mit der neuen Heimat mehr als zufrieden. Sie wurden dick und rund.
Grenzenlose Selbstüberschätzung
Der Sommer ging vorüber und die ersten Herbststürme kamen. Die Menschen eilten schneller an der Behausung vorbei und Krümel gab es weniger. In der Höhle fanden sie jedoch immer etwas. Nur am Tag fehlte es allen an Schlaf, sodass sie nachtaktiv wurden. Meist schliefen sie kurz vor Morgengrauen ein.
In einer dieser späten Nächte hörten sie ein Rumpeln und ein Donnern. Sie kuschelten sich dichter aneinander und lauschten angespannt. Sie warteten einfach ab.
Am Morgen guckten sie vorsichtig vor den Eingang ihrer Behausung. Es war ein Netz davor gespannt worden. Sie eilten wieder in ihr Domizil zurück und liefen alle Ausgänge ab. Überall war so ein Gewebe. Panik stieg auf.
Dann wurde das Dach abgehoben. Ein großes Maul aus Stahl grub sich in die Etage. Dieser Fang schaufelte sich Stück für Stück von oben über ihre Zimmer und Gänge, bis sie wie auf einer freiliegenden Fläche keinen Ausweg mehr in einen Tunnel oder Raum fanden. Sie bewegten sich nicht.
Die Aufregung hatte sie müde und hungrig gemacht.
Gelegen kamen da die einzelnen kleinen Bröckchen, die ihnen nun zugeworfen wurden. Schnell noch fressen! Dann schliefen alle erschöpft ein.
Grenzenlose Wahrheit
Die Erdmännchen, die aus dem Zoo durch ein achtlos entsorgtes Skate-Board ausgebrochen waren, und sich an einer nah gelegenen Bäckerei angesiedelt hatten, konnten endlich eingefangen werden. Erdmännchen benötigen eine Schlaftemperatur von mindestens fünfzehn Grad, was in den kommenden Monaten, der kalten Jahreszeit, für sie zum Problem geworden wäre. Alle Tiere sind wohlauf. Gefunden wurde die Gruppe durch den Bäckermeister, der in seiner Backstube Ratten vermutet hatte.
Grenzenlose Freude
Kai las dies in der Tageszeitung, er lächelte und ein wohlig warmes Gefühl ergriff seinen Bauch. Dann erblickte er einen Schmetterling auf seiner Müslischale, der seinen Rüssel in die süße Milch tauchte.
09.10.2021
Mathilde
Es ging alles so schnell. Sie verblich wie eine Schnittblume ohne Wasser in praller Sommersonne. Verdorrte, und ihre Lider hoben sich nur noch halb. Dann hauchte sie eines Tages ihren letzten Atem aus und war für immer aus meinem Leben entwichen.
Ich war damals wie in Trance durch unsere Wohnung gelaufen. Hatte keine Ruhe, mich in einem Raum aufzuhalten, da jedes Quadratzentimeterchen an sie erinnerte. Ich öffnete nicht den Kleiderschrank, nicht den Küchenschrank, nicht die Anrichte. Ich befürchtete, dass die daraus hervorquellenden Erinnerungen mich gnadenlos ersticken würden.
Ich floh aus der Wohnung. Kaufte mir etwas Essbares auf dem Markt und setzte mich dort auf eine Bank. Im Frühjahr mit lauen Temperaturen und auch im Sommer, im Schatten des Kugelahorns. Gegenüber beobachtete ich die Menschen, die in das Kaufhaus eilten. Der Eingang war nur wenige Schritte entfernt. Manchmal musste ich meine Füße anziehen, damit hetzende Passanten nicht darüber stolperten. Die Fußgänger hasteten hinein und hinaus. Heraus kamen sie oft mit sehr großen Papiertüten und noch größeren Aufdrucken von Markennamen. Damen trugen sie wie Handtaschen über dem gebeugten Arm und sprachen in das Handy in der erhobenen Hand. Berichteten sicher von ihrem erjagten Fang.
Was für ein Jammer! Eine Horde Konsumenten, die keinen Gedanken daran verschwendeten, wie endlich das Leben ist. Denen kam gar nicht in den Sinn, dass sie am letzten Tag ihres Daseins all diese Tüten, Beutel und Packungen nicht mitnehmen können.
Jeden Abend kam der Augenblick, an dem das Kaufhaus abgeschlossen wurde und die übrig gebliebenen Besucher ausspuckte wie Verdauungsreste. Ich betrachtete die Schaufenster, in denen nach und nach das Licht anging. Die Damen und Herren, die darin standen und in unnatürlichen Posen erstarrt schienen, trugen bunte schrille Kleidung oder festliche oder kühl sachliche, je nach Thema der Dekoration. Manchmal waren sie nackt und hielten nur Schilder in den Händen „Ausverkauf!“, dann war wieder eine Saison zu Ende.
Das war nun meine Heimat geworden, auch im Herbst. Dann kam der Winter und es wurde zu kalt für die Bank. Ich fand einen Platz im Café, ebenfalls gegenüber dem Warenhaus, aber ein bisschen entfernter. Die Gesichter der Konsumenten erkannte ich, manche winkten mir zu oder nickten. Ich war am Platz inzwischen Inventar.
Zuhause war immer noch alles beim Alten. Die Wohnung ohne Mathilde, leer und kalt. Ich mied die Räume, kam nur zum Schlafen. Am Morgen stand ich auf, wusch mich, kleidete mich an und ging zum Marktplatz.
Zuhause blieb ich nur, wenn meine Nichte mich besuchte und rührend umsorgte. Sie riet mir einmal, die Schränke auszuräumen, die Zimmer zu renovieren. Ich nickte nur und sagte: „Später!“. Da stand das Mädchen deplatziert im Flur, rief noch einige Male so etwas wie „Hallo!“, ich habe einfach nicht reagiert. Dann gab sie auf und ging wortlos. Kam danach viel seltener.
Nun saß ich im Café, Frau Krause hatte Dienst und brachte mir ungefragt ein Kännchen Kaffee. „Hier, Walter, dein Kaffee. Magst du heute Käsekuchen oder Streusel?“
„Streusel!“, erwiderte ich ohne vom Kaufhaus wegzusehen, um die emsigen, raffenden Ameisen weiterhin zu beobachten.
Das Warenhaus schloss um 22 Uhr seine Pforten, das Café zwei Stunden später. Ich genoss wie immer die letzten leisen Momente, in denen der Ameisenhaufen zur Ruhe kam und nur noch das schöne warme Licht der Retrolaternen den Platz beleuchtete, die Schaufenster von unten Lichtkegel spiegelten.
Eines Tages bewegte sich Madame Blond… so nannte ich die Schaufensterpuppe mit der blonden Perücke. Sie war diejenige, die immer besonders grazil ihre Finger spreizte. Ich sah es sehr genau. Ich kenne ja meine Kulisse der Weltwirtschaft. Madame ruckelte. Ich fixierte sie, ließ sie nicht mehr aus den Augen. Strengte mich so an, dass sie tränten und das Bild verschwamm. Wäre Mathilde hier, sie fände es spannend wie ich. Da war ich mir sicher.
Einige Tage später ruckelte genau diese Puppe wieder, mir war das unheimlich. Ich konnte das Frühjahr gar nicht erwarten, denn dann würde ich erneut direkt vor dem Geschehen sitzen und alles genauer betrachten.
Auf dem Heimweg blieb ich an diesem Fenster stehen und besah mir die Werbefigur intensiv. Hatte man ihr aus irgendwelchen marketingtechnischen Gründen einen Ruckelmotor eingebaut, um unterbewusste Aufmerksamkeit zu erzeugen?
Ich blickte durch die Scheibe und suchte nach einem Kabel oder einem technischen Gerät, was die Schwingungen hätte verursachen können. Bemerkte dabei jedoch nur, dass ich eine neue Brille benötigte, da mein Sichtbild unscharf war.
Einige Wochen später saß ich in der Frühjahrssonne vor dem Fenster und sah jede Kleinigkeit durch die neue Brille auf meiner Nase. Ich besah mir das Szenario vom Morgen hin zum Abend, bis die Stadt wieder in ihre Totenstarre ohne Kaufrausch gefallen war. Da bewegte sich die Blond erneut. Wackelte diesmal so stark, dass ich annahm, sie stürze gleich. Und was soll ich sagen, aus ihrer Schuhspitze, das Bein endete direkt in einem Damenschuh mit hohem Absatz, quetschte sich von der Sohlenseite her graues Fell, wuchs hervor wie ein haariger Pilz im Zeitraffer. Kein großes Tier, eher zierlich.
Ich beobachtete nun dieses kleine Wesen, das hier garantiert nicht erwünscht war. Zuerst hielt ich es für eine Maus, bis ich dann jedoch den Schwanz sah, der sich glatt als Letztes aus dem Loch schlängelte und der zu einer Ratte gehörte. Sie blieb kurz sitzen, rieb sich die Augen und die spitze Nase, schnüffelte in die Luft und sah mich dann an. Erschrocken duckte sie sich ruckartig, ließ mich nicht aus den Augen. Entspannte sich aber schnell wieder.
Ich sah mich links und rechts um… Niemand beobachtete, was ich erblickt hatte, da ich fast allein war. Ich pfiff kurz. Die Ratte hob ihren Kopf, also durch die dicken Scheiben konnte sie mich scheinbar hören. Man ahnt ja nicht, was Tiere für ausgefeilte Sinne haben im Vergleich zu uns Menschen. Oder die Schallwellen suchen sich ihren Weg durch unbekannte Kanäle.
Das graue Fellknäuel hüpfte fort und verschwand in einem Lüftungsschlitz dicht an den Fensterscheiben im darunter liegenden Labyrinth. Ich ließ meine Schultern sinken und sah eine Weile vor mich hin, da bemerkte ich im Augenwinkel weiter links, wie sich an der Kellerabdeckung etwas bewegte. Ich wendete meinen Blick in diese Richtung und siehe da, das Tier hatte die Außenwelt betreten, sicher mit dem Ziel in das Abenteuer seiner Nacht.
Ich vermutete, dass sie am Tage in Madame Blond ihren Schlafplatz fand. Während all die Kaufsuchenden durch das Haus trabten, auf dem Weg zu ihrer Glückseligkeit, schlief das possierliche Tierchen unbeeindruckt im Schatten der Werbung.
An den kommenden Tagen klopfte ich immer mal wieder erwartungsfroh an die Schaufensterscheibe, aber es tat sich nichts. Das zierliche Tier kam erst am Abend heraus, wenn es still wurde. Betrachtete mich mit seinen Knopfaugen, nickte kurz und hüpfte zum Lüftungsschlitz, um kurz danach aus dem Keller aufzutauchen.
Wir hatten uns bald aneinander gewöhnt. Sie kam nun nah zu mir gelaufen. Nicht ohne Grund. Ich brachte Nüsse, Obst und manchmal sogar Hackfleisch mit. Ich freute mich jeden Abend darauf, zu beobachten, mit welchem Appetit die Kleine meine dargebotenen Leckereien verspeiste.
Sie sprang jetzt munter an meinem Hosenbein herauf, setzte sich in meinen Schoß, verputzte, was ich dort mit kleinem Plastikschälchen bereithielt. Das hatte ich zuhause aus dem Küchenschrank mitgebracht. Danach krabbelte sie schnurstracks in meinen Ärmel und schlief in einem weichen Stoffknäuel aus Resten, die ich im Kleiderschrank gefunden hatte, ein. Meist nur ungefähr zwanzig Minuten, dann kroch sie wieder hervor, kletterte weiter hoch zum Kragen, umlief meinen Hals, schnupperte an meinem Mund und hüpfte nach dem Abstieg von mir in großen Sprüngen die Straße hinunter, bis ich sie nicht mehr sah. Darauf ging ich jedes Mal lächelnd nach Hause und legte mich schlafen.
Am Morgen konnte ich kaum den Abend erwarten, an dem ich sie wiedertraf und ihr vom Tage erzählte, wer alles einkaufen war, was sich getan hatte im Ameisenhaufen des Weltkonsums. Sie und ich waren zwei einsame Satelliten zwischen all dem Weltraumschrott, der uns umflog, und wir piepten uns lebenserhaltende Signale zu.
Sie lag gerne in meinem Ärmel, kuschelte sich an mich, hörte zu, manchmal schnaubte sie tief durch, wenn sie besonders absurde Erlebnisse von mir hörte. Oder ich spürte an meiner Haut ihr Herz hastig klopfen. Dann irgendwann wurde sie wieder wach, schüttelte sich, wusch sich mit ihren Pfoten Nase und Schnurrbart und wir verabschiedeten uns. Ich streichelte ihren kleinen weichen Bauch und hatte den Eindruck, sie lächele. Jeder Abend endete nun mit meinem Ritual: „Gute Nacht, liebe Mathilde, bis morgen!“.
09.10.2021
Tilia Cordata
Wenn ich den Duft von Winterlinde atme, füllt sich mein Herz mit vielen Erinnerungen. Lachen, Leben, Herzklopfen und Wehmut kommen mir in den Sinn. Dieser Duft, der so viele Gefühle bei mir verknüpft wie kein anderer lässt mich vor allem an ein Erlebnis denken, welches mich nachhaltig beeindruckt hat.
***
In den Sommerferien blühten die Bäume der kleinen Altstadt noch, wenn ich drei Wochen bei meiner Großmutter verbrachte. Der Duft der Linden erfüllte die summende Luft.
Ein typischer Anger mit protestantischer Kirche, umgeben von märkischen Bauernhäusern und einigen Stadtvillen. An dieser Gemeindewiese lebte meine Oma in einem sehr kleinen Haus im Erdgeschoss. Das Gebäude, sein Hof und der dazugehörige Garten waren für mich wie ein Abenteuerspielplatz. Man ging über den Hof und betrat das Haus vom Hintereingang. Der Boden des Hausflures war mit gelben wabenähnlichen Steingutfliesen belegt. Manche klapperten lose beim Betreten. Ein großer alter Bücherschrank bewachte einen ungenutzten Esstisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch lag eine Decke, die wie ein Teppich aussah und die Haut der unbekleideten Unterarme pikte. Neben der Eingangstür zur Wohnung meiner Oma stand ein Wäscheschrank, außerdem eine kleine Truhe. Unter dieser versteckte meine Großmutter einen Teller mit Wurst, die Butterdose und Kaffeesahne. Meine Omi meinte, auf diesem Fliesenboden sei es kalt wie in einem Eisschrank. Einen Kühlschrank hatte sie nicht. Fernseher, Waschmaschine und Herd besaß sie auch nicht. Oma kochte auf einer Doppelplatte und hantierte zusätzlich mit einer einzelnen elektrischen Schnellkochplatte.
Außerdem gab es von diesem großen Hausflur abgehend das Badezimmer für alle Bewohner gemeinsam, mein Badetag war samstags. Eine Waschküche mit zwei großen Kesseln und ein Plumpsklo, vor dem ich Respekt hatte waren ebenfalls Parterre. Die Dielung im Klo hatte einmal nachgegeben und meine Großmutter war eingebrochen. Abgesehen davon, dass sie tatsächlich schwere Prellungen davongetragen hatte, war sie zum Glück nicht hineingefallen. Mein Blick in diese tiefe Unendlichkeit, hatte mir später bei jeder Benutzung Bange gemacht.
Die Wohnung meiner Oma war gemütlich. Sie hatte ein Zimmer zur Straße und eine Küche, über die man ihre Wohnung betrat. Nachts begab sie sich nie in den Hausflur, schloss Küchentür und die schwere Zimmertür sorgfältig ab. Im Zimmer gab es ihr Bett, an der Straßenseite befanden sich zwei hohe Fenster. Zwischen ihnen protzte ein Nähschränkchen, auf dem Omas Radioapparat thronte, darauf ein gerahmtes Foto. Es zeigte mich als viel jüngeres Kind. Es machte mich stolz, mich so ausgestellt zu sehen.
An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Anrichte, daneben die Couch, die mir nachts als Bett diente. Außerdem gab es ein Buffet und einen Kleiderschrank. Neben dem Sofa befand sich ein kleines Rauchtischchen mit Spitzendecke und ein schwerer Sessel direkt am Ofen.
Im oberen Geschoss wohnten ein Student und zwei alte Damen, Frau Hanl und Frau Friedrich. Beide Frauen begrüßten mich herzlich in jedem dieser Sommer. Heimlich steckte mir jede ein Fünf-Mark-Stück zu. Besonders gern brachte ich am Morgen die Zeitung zu Frau Hanl, die im Dachgeschoss ein Zimmer mit Küche bewohnte. Wenn ich bei ihr klopfte, rief sie „Herein!“, und ich bekam ein Glas Milch. Sie erzählte Geschichten aus ihrer Vergangenheit, die genauso spannend waren, wie die meiner Oma. Ich liebte es, aus einer Zeit zu hören, die lange vergangen war. Wenn ich sie verließ, erhielt ich immer eine Belohnung, etwas zu naschen, fünfzig Pfennige oder ein altes Buch zum Lesen. Die Bücher schätzte ich sehr. So lernte ich Königin Luises Lebensgeschichte, Kästners Doppeltes Lottchen oder Reinecke Fuchs kennen. Die Bücher durfte ich alle behalten. Es waren wunderschöne Prachtausgaben mit Illustrationen.
Der Student, Herr Richter, war in diesem Haus ein Störkörper. Er veranstaltete laute Partys mit jungen Frauen. Ich lernte den Begriff Vielweiberei kennen und meine Großmutter sprach vom Teufel und Verführung, was mir ein flaues Gefühl im Magen machte. Wenn ich von oben Frauenstimmen kreischen hörte, lief ich schnell in Omas Küche. Dort war ich sicher.
Am Abend, um 19:30, machten Oma und ich uns für die Nacht fertig. Rituell. Immer um diese Zeit. Großmutter baute mein Bett und ließ die Jalousien herunter. Ein Oberlicht der beiden Fenster wurde geöffnet. „Dass Luft reinkommt!“ Dann schaltete sie das Radio ein. Dieses leuchtete warm und brummte leise. Ich wartete immer gespannt, wie lange es dauern würde, bis das Gerät endlich ein Geräusch produzierte.
Wir lagen beide unter unseren Bettdecken, eine Kerze schien auf dem Radio, um Strom zu sparen, und es erklang eine mir bekannte Melodie. Ewald Wenk verkündete: „Damals war´s! Geschichten aus dem alten Berlin.“ Hörspiele waren das, aufwendig produziert, mit berlinerischem Dialekt und schöner als jede Fernsehsendung zu dieser Zeit. An anderen Abenden gab es Quizsendungen, eine Musikwunschsendung mit Grüßen oder politischen Diskussionen. War die abendliche Radiosendung zu Ende, erhob sich meine Großmutter und löschte mit einer halben Walnussschale das Kerzenlicht.
Eine magische, nirgends sonst erlebte Dunkelheit umgab mich dann. Ich wedelte mit meiner Hand dicht vor den Augen, fühlte den Luftwiderstand in meinem Gesicht, konnte jedoch nichts sehen. Blitze zuckten durch mein Gesichtsfeld oder farbige Kreise pulsierten.
Wir plauderten in dieser nichts preisgebenden Blindheit. Ich fragte, ob meine Omi die Mücke im Raum hören würde, was sie verneinte. Ich fragte sie nach der Kindheit meiner Mutter. „Wie war Mutti in der Schule?“. Und sie erzählte.
Sie hatte auch ein großes Geschick, gruselige Dinge zu berichten. Ihr Aberglaube brachte die spannendsten Geschichten hervor. Sie erzählte von einem Kohlenstapel, der in der Nacht umgefallen war. Am nächsten Tag sei jemand aus der Verwandtschaft nicht wieder aufgewacht. Der Teufel hatte ihn geholt. Ich dachte dann an den Studenten im Dachgeschoss und zog die Decke bis unter die Nase.
Die nahe Turmuhr schlug alle viertel Stunde, die ganze Nacht. So konnte ich verfolgen, wie spät es war. Manchmal ermahnte Oma mich dann, jetzt endlich zu schlafen. Ich lauschte den Schritten auf dem Pflaster des Trottoirs vor den Fenstern. Ich unterschied weibliche Absatzschuhe von schlurfenden Betrunkenen. Besonders unheimlich war, wenn sich so ein Betrunkener von außen gegen die Jalousie lehnte und einschlief und an den Holzlamellen entlang schliff, wenn sich sein Oberkörper zur Seite neigte. Dann wisperte ich: „Omi, da sitzt wieder einer auf dem Fensterbrett!“. Sie erwiderte: „Hoffentlich übergibt der sich nicht auf unser Pflaster… schlaf weiter“. Was aber nur schwer gelang. Ich fragte dann: „Soll ich nicht einfach mal ans Fenster klopfen?“. Das verneinte sie und flüsterte, ich solle nun endlich still sein.
Mitten in jeder Nacht weckte sie mich, ich torkelte verschlafen zum Topf. Gähnend beobachtete ich die Schaumbildung im Nachtgeschirr. Die kleine Nachttischlampe beleuchtete alles unschuldig. Manchmal sagte ich ihr, ich würde durchschlafen und könne morgens auf die Toilette gehen, aber das wollte sie nicht.
In einer dieser Nächte weckte mich meine Oma: „Joachim, Junge… horch!“.
Mein Herz pochte zum Hals und bis in die Schläfen. Meine Augen versuchten, im Dunkel einen Halt zu finden. Verschlafen keuchte ich: „Was denn?“.
„Das Käuzchen schreit! Hör´, es ruft: `Komm mit! Komm mit! `“. Allein dieser Satz jagte mir eine Gänsehaut ein, die sich rasend schnell über den Körper vom Nacken bis zu den Zehen ausbreitete und zurück stob. „Ich muss ganz schnell Pipi!“.
Ich fragte, was ein Käuzchen sei. Meine Großmutter erklärte mir, dass das Käuzchen in einer Linde lebe und wenn es rufe, würde jemand sterben. Ich atmete hastig und versuchte mir das Ungeheuer vorzustellen. Eine Hexe, die Leute durch ihr widerliches Gekreisch tötete und scheinbar hörten es nur Menschen, die dem Tode geweiht waren? Ich machte mir um meine nicht mehr sehr junge Großmutter Sorgen. Endlich erfuhr ich, dass es sich um einen Eulenvogel handele, welcher sehr selten ist. Nun vernahm ich den Vogelruf auch. Mir war besser, da es sich nicht um eine Zauberin mit graugespinstigem Haar handelte. Und konnte den Aberglauben des Todes durch Eulenruf genauso wenig glauben, wie den Totschlag durch umkippende Kohlenstapel, außer wenn man gerade darunter läge. Ich beruhigte meine Oma und fragte sicherheitshalber, ob es ihr gut gehe. Sie meinte, „Ja!“. Und „Du wirst schon sehen.“, was mir wieder die Kehle zuschnürte. Ich erwiderte jedoch stammelnd: „Quatsch Omi, das ist, das ist, naja, doch nur eine Redewendung!“.
Am nächsten Morgen weckte mich meine Großmutter wie immer, die Jalousien waren, für mich verblüffend, schon zur Hälfte hochgezogen: „Was sollen denn die Leute denken, wie lange ich in´ne Seche lieg´!“.
In der Küche am Handwaschbecken wartete ein Trinkglas mit rosa Flüssigkeit, Mundwasser-Cocktail. Darin stand die Zahnbürste. Ich putzte mir die Zähne. Direkt anschließend gab es eine Scheibe Mischbrot mit hausgemachtem Pflaumenmus. Minze-Brot-Pflaumenmus-Geschmack einmalig!
Anschließend machte ich meinen Gang zum Briefkasten. Gab eine Zeitung meiner Omi in die Küche und stieg die Treppe hinauf. Ich klopfte bei Frau Hanl. Als sie nicht hereinrief, ging ich leise und vorsichtig durch die Tür. Ein kalter Zug blies mir ins Gesicht. Es roch muffig. „Frau Hanl? Ich bin´s, Achim!“. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.
Die alte Frau lag mit weit geöffnetem Mund und schreckgeweiteten Augen im Bett. Ich folgte ihrem Blick an die Decke des Zimmers. Nichts! Ich ließ die Zeitung fallen, meine Hose wurde nass. „Omi! …“ gellte durch das Haus.
***
Nicht die absolute Dunkelheit macht mir Angst, sondern das Halbdunkel. Und wenn ich heute nachts ein Käuzchen schreien höre, bekomme ich wieder dieses unangenehme Haarsträuben und habe Lindenduft in der Nase, glauben Sie mir …
Die Abrechnung by Bernd Kleber
24.10.2021
Die Abrechnung
Sie sieht zur Uhr. 12 Uhr 45. Dann geht ihr Blick zur Schrankwand. Wenn sie ihre Verabredung einhalten will, muss sie jetzt los. Sie erhebt sich. Ihre Hände krallen sich um die Griffe des Rollators. Schritt für Schritt müht sie sich, ein Bein vor das andere zu setzen. Am Schrank angekommen, holt sie tief Luft. 12 Uhr 50. Schweiß rinnt ihr den Rücken herunter, obwohl im Raum nur knapp siebzehn Grad herrschen. Kalte Luft strömt durch die angelehnte Tür ins Wohnzimmer. Aus dem Schrank greift sie die goldfarbene Metallbox mit den Zigaretten, die weiße Spitze und das Feuerzeug. Alles legt sie in den Korb der Gehhilfe. Sie nimmt noch die Dose mit den Keksen und legt sie dazu. Dann manövriert sie umständlich das Gerät und sich selbst in Richtung Tür.
Wie bei Kranarbeiten hebt sich abwechselnd jedes Bein in die Höhe, schaukelt es, tariert aus, schwebt bedächtig vorwärts, um letztendlich langsam abgesetzt zu werden. Sie kommt vorwärts. Um 13 Uhr ist sie verabredet. Keine Minute früher oder später. Einen geübten Schritt über die Schwelle macht sie und mustert die kleine Runde. Alle drei sind pünktlich. Bis zu ihrem angestammten Platz, einem Korbstuhl, ist es nicht mehr weit. Auch das schafft sie und setzt sich. Mit geschickten Griffen wickelt sie die Decke um ihre Beine und Füße. Das macht sie nicht zum ersten Mal. Ihre Strickjacke schließt sie bis an den Kragen. Die Männer schauen aufmerksam zu. Sie steckt mit zittrigen Fingern eine Zigarette in die Spitze, das Feuerzeug entflammt. Genussvoll zieht sie den Rauch tief ein. Räuspernd wendet sie sich den Dreien zu.
„Herr Hohner, du siehst schlecht aus! Geht es dir nicht gut?“ Der Angesprochene rückt seine Haltung zurecht. Er schüttelt sich. Ein verlegener Blick.
„Ich staune, dass ihr tatsächlich gekommen seid. Wir sind ja alle in einem Alter, da man nicht mehr mit Wundern rechnet. Ich habe euch heute etwas mitzuteilen.“
Sie hebt ihren Arm, da sie jetzt keinen Einspruch duldet.
„Ach Hohner, heute glaube ich, ich hätte damals nicht mit dir ausgehen sollen. Wie ich zu dir aufblickte. Blutjunge achtzehn war ich. Und du? Warst ein Kavalier. Hieltest mir die Tür auf, rücktest mir den Stuhl zurecht. Das alles beeindruckte mich. Wenn du mich ansahst mit deinen blauen Augen. Wenn wir beim Wunschkonzert mitsangen. ,Bei dir ist es immer so schön …’ Wie ich meinen Kopf an deine Schulter legte, wenn Zarah Leander ihre traurigen Lieder sang und im Kino alle Frauen Nähe suchten. Nein, sag jetzt nichts!“
Sie öffnet die Keksdose und stellt sie auf den Gartentisch.
„Doch dann, sie hatten die Silbersteins verschleppt, hatten Paul und seine Genossen verhaftet … Der braune Mob wurde immer aggressiver, als du in diese beschissene Partei gingst. Als du plötzlich diese Parolen wiederkäutest. Als du sogar von neuem Land für eine neue Zeit und Umzug nach Polen spekuliertest, ach Hohner! Das Kreuz an deinem Revers schrie mich geradezu an. Du knalltest vor mir die Hacken zusammen, phhhh, wie grotesk. Ich bekam so einen Hass auf alles. Du Idiot! Du alberner Mensch! Die Höhe war, mich anzuschreien mit deinem ,Heil’. Bäh, wie ich mich schämte, im Café Bauer, Gäste sahen auf und du standest da vor mir, wie der tapfere Zinnsoldat, ohne jede Beweglichkeit, ohne jeden Anflug von Zartheit und Liebe. Du warst eine Marionette, ein Spiegelbild dieser Zeit, aber auf der falschen Seite des Spiegels. Nein! Ich verabscheute dich und meine Zuneigung zu dir. Alles hast du mit dieser einen, bezeichnenden Bewegung zunichtegemacht.“
Sie hustet und schlägt die Asche in das Marmorgefäß.
„Ich hasste dich dafür!“
Laut ist sie geworden. Mit nichts würde sie heute zurückstecken. Die drei Zeitgenossen sollen all das schlucken, woran sie über Jahre fast erstickt war.
Lohmeier macht dicke Backen. Damit gewinnt er sofort ihre Aufmerksamkeit.
„Fritz, der Lohmeier, schön, dass du auch meiner Einladung folgtest. Alles hätte ich für dich getan. Mein Herz schlug nur für dich. Ein Mann, zu dem ich aufsehen konnte. Wenn wir uns trafen und an den Händen hielten. Wenn wir über unsere Zukunft sprachen, unsere schöne gemeinsame Zeit und unsere Familie planten.“
Herr Lohmeier sieht nicht ohne Stolz zu den anderen beiden Herren.
„Dass es mir aber nicht merkwürdig erschien, diese Treffen im Hotel oder bei mir. Nie sah ich dein Zuhause. Kein Wunder! Wie naiv ich war. Meine Güte, wenn ich dir in die Augen sah, versprachst du mir unsere Zukunft, die wie eine Seifenblase zerplatzte. Es war dieser heiße Sommertag, an dem Du länger arbeiten solltest. Ich ging allein in unser Café und bestellte mir einen Eisbecher und rauchte. Plötzlich hörte ich deine vertraute Stimme und lächelte verliebt in mich hinein. Deine Stimme gehörte ja an diesen Ort. Und dann antwortete eine Frau, aber nicht ich. Ich drehte mich zu euch. Da warst du mit deinen Kindern, deiner Frau. Ich traute meinen Augen nicht, so wie du deinen nicht trautest, als du mich wahrnahmst. Wie konnte ich es auch wagen, ohne dich dorthin zu gehen? Mein Eisbecher zerschepperte auf dem Boden. Mir wurde schwindelig. Du zahltest eilig und schobst deine Familie aus der Eisbar. Ich schämte mich so sehr. Ich schämte mich meiner Naivität und meiner Träume. Als du in den nächsten Tagen vor meinen Füßen lagst und weintest, musste ich alle Kraft aufbringen, nicht nach dir zu treten. Du warst so erbärmlich! Du gabst dich als Mann und warst nur ein Egomane.“
Lohmeier runzelt die Stirn, will etwas sagen, sieht aber nur verlegen um sich.
„Herr Krause, Peter Krause, du warst meine letzte Enttäuschung. Mein Gott, wie dämlich ich war! Da hatte ich die Erfahrung mit diesem Heil-Hinkel-Hohner gemacht und falle wieder auf einen Befehlsempfänger herein. Denkt ihr eigentlich, dass Uniformen stark machen? Uniformen schalten lediglich alles gleich.“
Krause geht auf und ab, senkt den Kopf dabei.
„Nie werde ich vergessen, als ich mit der Brigade zur Maidemo musste und dich fragte, ob du mitkommen würdest. Als du dich wandtest wie eine Schlange, du hättest schon …, könntest nicht sagen …, sei ja auch eine Brigade …, und schon gar nicht würdest du früher die Kolonne verlassen. Das machten wir aber alle. Nur du nicht. Zu spät erkannte ich den Grund. Ich küsste dich und erzählte dir, wo wir uns aus dem Marsch stehlen würden. Hielt dich in den Armen und lachte, als du unseren Hochzeitstermin vorschlugst. Lachte vor Glück! Dann auf, zur Demo in den Mai! Wenn man sich bei der BGL gezeigt hatte, war man ja anwesend gewesen. Als der Marschblock an der Tribüne vorbeikam und ich zu den alten Greisen hochsah, wie sie dastanden und winkten. Winkten wie Roboter. Man munkelte sogar, dass das lediglich winkende Pappfiguren seien, dort abgestellt fürs Volk und dessen Vorbeimarsch. Da sah ich dich! Ein Stich in meine Brust, ich stockte und ging nicht weiter. Leute liefen hinter mir auf und murrten. Du standest dicht hinter einem dieser winkenden Funktionäre und sahst dich wild in alle Himmelsrichtungen um, eine Hand im Mantel. Nein, sei still jetzt! Du Stasimann! Mein Herz gehörte einem Stasimann. Darum konntest du dich nicht davonstehlen, dich nicht entfernen, bevor das Ziel erreicht. Darum logst du mich an, deine Arbeit betreffend. Dein ganzes Leben eine einzige Lüge. Wenn du nicht Minister bewachtest, spioniertest du kleine Leute aus. Darum wurden nach unserer Feier Evi und Robert verhaftet. Darum bekam ich von der Betriebsgewerkschaft die Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Ich fühlte mich so beschmutzt und gebraucht, so betrogen. Du warst ein kleines fieses Schwein.“
Angewidert zischt sie das letzte Wort.
„So, ihr drei. Eure Lügen machten alles in mir stumpf. Verwelkt, jedes Gefühl der Zuneigung, jedes Vertrauen an das Gute im Menschen. Lügen wurden mein Fluch. Wenn jemand log, fühlte ich mich schlecht. Das ist nicht gerecht! Nun sitzt ihr hier und guckt betreten. Ich hätte gern eine Familie gehabt, Kinder, einen kleinen Garten. Einen Garten der Liebe. Mein Leben habe ich enttäuscht und verbittert gelebt. Ich war nicht mehr in dem Alter, in dem man mit dem Finger schnippt und Kavaliere um sich hat. Ich wurde gemieden, von Männern, die sogar wesentlich älter waren als ich. Setz dich wieder hin, Peter und hör dir das gefälligst an!“
Sie zeigt auf den leeren Sitzplatz.
„Arbeiten, nach Hause, ins Bett und wieder arbeiten. Das war mein Leben, nach dieser beschissenen Nazizeit, dem Krieg mit den Luftangriffen, dem Hunger in der Nachkriegszeit, dem Wiederaufbau.
Und nach meinen drei Liebhabern, die mir kein Glück bescherten. Ihr habt nur an euch gedacht. Vielleicht habe ich genau solche Männer angezogen. Ich will euch nie wieder sehen und bin froh, dass ich heute endlich den Mut hatte, euch zu sagen, was ich davon halte. Das hätte ich damals schon tun sollen. Jedem von euch hätte ich die Wahrheit ins Gesicht schreien müssen, stattdessen habe ich mich verkrochen und geschämt. Wisst ihr das? Das war´s, ich habe euch nichts mehr zu sagen.“
Sie greift wieder in den Korb und hält eine kleine Pistole in der zitternden Hand, zielt …
Und zündet wieder eine Zigarette an.
Im Inneren der Wohnung schlägt eine Tür zu.
„Frau Koppe? Die AWO! Hallo? Sind Sie auf dem Balkon? Oh mein Gott, es ist doch viel zu kalt, Frau Koppe. Kommen Sie, wir gehen hinein.“
Drei Tauben erheben sich in die Luft und fliegen gegenüber auf einen anderen Balkon.
„Und die Tauben sollen Sie auch nicht füttern, Frau Koppe.“
Grenz-wertig
Die Grenzbeamtin, die eher aussah wie ein Beamter, forderte mich in schroffem Ton auf, meine Ausweishülle auszupacken und das Adressbuch durchzublättern. Zuvor hatte ich den ganzen Koffer ausgepackt. Sie fragte, ob ich kalte Sommertage erwartete, wegen der vielen Pullover.
Meine Hände zitterten. Ich blätterte das Adressbuch durch. Als jedoch meine Hände so stark bebten, dass ich die Ausweishülle kaum halten konnte, hielt ich ihr die entgegen, sie könne sie doch selbst durchsuchen.
Die große stabile Frau mit dem kantigen Gesicht und dem Messerformschnitt blickte mich durch schmale Augen an. Sekunden vergingen. Dann meinte sie gelangweilt, ich solle durchgehen und mich beim Einpacken gefälligst beeilen.
Ich war durch. Ich war „Drüben“! Westberlin fühlte sich hier wie ein Dorf an. Nichts erinnerte an eine turbulente Großstadt. Es war menschenleer, kein Verkehr, Vögel zwitscherten. Wenn man bedachte, dass nur dreihundert Meter weiter die Baumschulenstraße eine stark befahrene Straße war, grau und dreckig von den Abgasen der knatternden Zweitakter, ein krasser Gegensatz.
Ich wusste, mit dem Bus nun bis Hermannplatz, da in die U-Bahn zur Blaschkoallee. Mir war schlecht und ich war sehr aufgeregt, denn ein neuer Lebensabschnitt begann. Nach den 10 Tagen erlaubten Besuches in dem „Besonderen politischen Gebiet Berlin / West“ würde ich nicht zurückgehen. So war es geplant.
Der Bus hatte mich inzwischen aufgenommen und am Hermannplatz auch wieder ausgespuckt. Mitten hinein nun doch in quirliges Großstadt-Gewimmel. Ich blieb wie angewurzelt stehen, alles in mich aufzunehmen, zu orientieren. Autos hupten, Türken riefen mit rauer Stimme etwas in ihrer Sprache. Ich lief über einige Ampelüberführungen und tauchte in den bauchigen Untergrund ab. Jonas im Wal!
Der Bahnhof, der seinerzeit zur Eröffnung des größten Kaufhauses der Stadt entstand, war in orangegelbe Kacheln gekleidet, die ein warmes Licht reflektierten. Überall kommerzielle Werbung statt politischer Parolen. Ich war froh, als ich endlich meine Linie gefunden hatte. Hier erinnerte alles an den riesigen Untergrund am Alexanderplatz, der jedoch mit blauen Kacheln schimmerte.
Blaschkoallee kroch ich wieder hoch ans Tageslicht, hievte den schweren Koffer Stufe für Stufe. Durchschnaufen! Ein großer schwarzer Wagen hielt vor mir am Straßenrand, Mercedes Benz. Eine Frau in einem edel wirkenden Kostüm sprang heraus und fragte, ob sie mich mitnehmen könne. Ich war baff und willigte ein. Die sind ja hier hilfsbereit, diese Westberliner. Nachdem ich ihr erklärt hatte, zu welcher Adresse ich müsse, fuhr sie an und strahlte. Sie fragte, ob ich mich auf den Kirchentag freuen würde. Ich murmelte etwas, wie keine Ahnung zu haben.
Sie wollte wissen, von wo ich käme. Ich erwiderte: „Aus Ostberlin!“. Sie behauptete, dass ich so gar nicht aussähe und sie angenommen hätte, einem Christen aus Westdeutschland, der seine Unterkunft für den Aufenthalt zum Kirchentag suche, zu helfen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die christliche Nächstenliebe, seit sie wusste, dass ich ein DDR-Flüchtling war, geendet hatte. An der Adresse meiner Tante verabschiedete sie sich knapp, mit der Bemerkung, es könnten ja nun nicht alle aus dem Osten hier aufgenommen werden.
Dann lief alles in harmonischen Bahnen, meine Tante kümmerte sich rührend um mich und gab mir viele Empfehlungen und Ratschläge. Aber konkurrenzlos war ihr Vanillepudding, warm und sahnig, den sie mir kochte.
In Marienfelde meldete ich mich an und bekam den damals üblichen Laufzettel, der mich zu allen Stationen und Institutionen führen würde, um ein Bürger von Westberlin zu werden.
In meinem Adressbuch waren auch Kontakte von ehemaligen Freunden aus dem Ostteil der Stadt, die schon vor mir hier eingetroffen waren. So rief ich meine Freundin Anette an. Sie wollte alle Details wissen, den Grenzübertritt, wo ich untergebracht sei. Ich erzählte froh, dass ich nicht in einer Turnhalle gelandet war, sondern in einem Zimmer in Schöneberg. Ich hatte einfach nur riesiges Glück.
Anette lud mich zu ihrem Onkel für den Abend ein. Man könne mit ihm und seiner Familie das Wiedersehen feiern. Torsten, ihr Ehemann gab noch zu bedenken, dass es eine Familienfeier sei und ich mich vielleicht langweilen könnte. Doch Anette ließ keine Diskussion zu und begann schon den Weg in den Wedding zu beschreiben.
Wedding! Ich würde den berühmten roten Wedding sehen. Der Stadtteil, der historisch betrachtet, mit Mitte so verwandt ist. Ich dachte an die Autorin Alex Wedding, die unter diesem Pseudonym das wunderschöne Buch „Ede und Unku“ geschrieben hatte und mit bürgerlichem Namen Grete Weiskopf hieß.
Ich schrieb mir in der Telefonzelle alles auf. Fußweg zum U-Bahnhof Kleistpark, dort mit der Linie 7 bis Mehringdamm, hier auf den Nachbarbahnsteig wechseln und Richtung Tegel mit der „6“…. Aussteigen Leopoldplatz. Mit meinem patentgefalteten Berliner Stadtplan musste ich dann noch einige Straßen bis zu der Adresse der Gastgeber finden. Alles klar. Ich freute mich.
Ich besorgte Blumen und machte mich auf den Weg. Bald saß ich im Zug nach Tegel. Im Waggon war eigentlich die gesamte Welt vertreten. Dieses Multi-Kulti kannte ich aus Ostberlin nicht und fand es spannend und schön zugleich. Da lärmten Jugendliche in einer mir unverständlichen Sprache, da türmten sich Kopfwicklungen hoch auf Frauenhäuptern, eine Frau in Burka saß in einer Ecke neben der Waggontür, deutsche Rentnerinnen sprachen über ihre Enkel.
Hallesches Tor gab es noch einmal sehr viel Bewegung. Massen an Fahrgästen stiegen ein und aus. Das war also doch eine Großstadt Ostberlins vergleichbar, was die Masse an Menschen anbelangte. Kochstraße! Das ehemalige Zeitungsviertel wusste ich. Hatte es aber noch nicht besucht, den legendären „Checkpoint Charlie“ noch nicht angesehen, was unbedingt für einen der nächsten Tage auf dem Plan stand. Schon merkwürdig, dass ich mir die Hälfte meiner Stadt erobern musste wie ein Tourist, obwohl ich in ihr geboren war. All die Jahre hatte ich wie durch ein Schaufenster im Fernseher nach „Drüben“ gesehen. Theoretisch wusste ich viel und war immer wieder begeistert, wenn ich prägnante Orte endlich persönlich kennen lernte.
Der Zug fuhr plötzlich langsamer. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, dass der Tunnel nun beleuchtet war. Fahles Glühlampenlicht hinter vergittertem Glas blinkte alle zwei Meter auf. Ein Bahnsteig! Aber wir rollten durch!
Wie ein Geisterbahnhof lag der Perron dort, und er hatte keine Veränderungen in den letzten Jahrzehnten erfahren. Werbung von Juno-Rauchwaren an den Bänken, alles schien wie im Dornröschenschlaf und stammte aus der Nachkriegszeit.
Mich durchfuhr ein eiskalter Schreck. Wir durchquerten Ostberlin, der Bahnhof hieß Stadtmitte. Ich erinnerte mich, dass meine Tante gewarnt hatte, nie durch den Osten zu fahren. Würde es eine Havarie geben, müssten alle, von DDR-Grenzsoldaten begleitet, aussteigen und die Pässe würden bei der Kontrolle ergeben, wer geflohen war. Man erzählte sich, dass diese Fahrgäste sofort verhaftet werden. Ostdeutsches Recht!
Französische Straße kroch der Zug nun vorbei. Auch dieser Bahnsteig lag im Dämmerzustand aus den fünfziger Jahren. Mein Herz pochte. Friedrichstraße hielt der Zug. Panisch überlegte ich auszusteigen, dachte mir dann jedoch, wo soll ich hin, hier war nur der berühmte Übergang „Tränenpalast“, Ostberlin!
Mit nassen Händen klammerte ich mich am Sitz fest, als würde das helfen. Nun passierten wir Brandenburger Tor, wie ein Museum oder eine Filmkulisse lag der altmodische Steig da im diffusen Licht, einsam und verlassen. Symbolisch! Ich wusste nicht, wie lange wir noch durch Ostberlin fahren würden.
Da ruckte der Zug, es knirschte in den Achsen und er stand still! Ich keuchte und sah mich mit weit aufgerissenen Augen hektisch um. Die Jugendlichen lachten und johlten, wollten die Tür öffnen, die war aber gesperrt. Ich sah mich im Zug um, ob ich mich unter den Sitzen würde verstecken können? Sollte ich vielleicht meinen Ausweis aus dem Fenster in die Gleise werfen? Was war zu tun? Ich wollte nicht verhaftet werden, nicht in den politischen Knast. Das war klar.
Der Zugführer machte eine Durchsage, dass man Ruhe bewahren solle, es würde gleich weiter gehen. Der hat gut reden, dachte ich mir.
Auf dem Bahnsteig liefen Grenzsoldaten mit Hunden und geschultertem Maschinengewehr am Zug entlang und blickten in jedes Fenster, als suchten sie etwas. Mich? Ich schaute vor mir auf den Boden, wo eine Kaugummiverpackung lag, deren schönes Blau ich betrachtete, Hitschler. Ich bemerkte, dass ich die Luft anhielt, und ermahnte mich normal zu atmen. Die Hunde bellten jetzt den Zug an, als wäre der eine streunende Katze. Die Grenzer ruckten und zerrten an den Leinen. Machten die Tiere noch aggressiver.
Auf dem Bahnsteig erschienen weitere Wächter des „Antifaschisten Schutzwalls“. Ich hatte einen starken Harndrang und überlegte, ob mir zum Weinen zumute war oder ich eher bockig wie ein kleines Kind wimmern wollte. Das Gefühl schüttelte meine Nerven. Wie ein großer Fremdkörper, der sich Bahn brechen will. Alien!
„Werte Fahrgäste, es ist durchaus möglich, dass wir in wenigen Augenblicken evakuieren müssen. Der Zug ist nicht mehr betriebsbereit.“
Mir entfleuchte ein lautes „Nein!“ Die anderen Fahrgäste sahen mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. Nun war mir doch zum Heulen, aus Wut und Angst. Warum haben die beiden mich mit der U-Bahn durch Ostberlin geschickt? Sie müssen eigentlich geahnt haben, dass ich mich wie ein Karpfen in der Reuse fühlen würde, zappelnd gefangen.
Es gab einen Ruck und die Bahn fuhr weiter … Nordbahnhof, Stadion der Weltjugend atmete ich immer noch sehr flach. Und? … Reinickendorfer Straße!
Als er hielt und das Neonlicht alles magisch erhellte, der Waggon seine lebendige Fracht austauschte, atmete ich endlich aus.
Treue, Liebe, Hoffnung
„Pressen, pressen, na, nun ham´ Se sich mal nich´ so, los pressen …“, krähte die Hebamme. Jegliches floss in eine Richtung, bäumte sich zu Wellen auf, kam nicht weiter, wurde wie in einem Staubecken gehalten. Der Druck führte zu einer alles verzeihenden Ohnmacht. Bis das kleine zarte Wesen schrie, als es in die Kälte der Welt geschleudert war.
„Du bist etwas ganz Besonderes, meine Kleine, glaube mir. Schon allein dein Titel verpflichtet. Du hast blaues Blut. Sei stets ein Vorbild, anständig und untadelig. Üb Treu und Redlichkeit!“
„Wieso besonders?“, maulte sie. „Was kann da schon besonders sein?“
„Dein Blut! Von Generationen, das in deinen Adern fließt, muss dir Verpflichtung sein. Geh´ spielen Kind, mach dich aber nicht schmutzig!“
Ihre Eltern hingen da. Baumelten friedlich wie Marionetten auf dem Speicher. Wenn man am Seil wackeln würde, käme wieder Leben in sie. Angst vor dem, was anrückte. Die Furcht vor der neuen Zeit. Sie tastete ihren Blick von den ausgestreckten Füßen hoch zu den blauen Zungen, die sie herausstreckten. Blau!
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie konnte sich nicht regen. Das Blut in ihren Adern nahm Geschwindigkeit auf, bis sie zusammensackte und umfiel. Verabschieden! Loslassen! Sie würde zu ihren Verwandten fliehen. Der Schmerz in ihrer Brust verging nie.
Der Treck sollte über das Haff geführt werden. „Nein!“, hatte sie zu ihrem Bauern gesagt. „Da stapfen wir nicht mit. Lieber falle ich in die Hände des Russen. Lass uns über die Landzunge gehen, Karl.“ Sie folgte ihrem Blut, sie traf eine bewusste Entscheidung. Hart musste sie jetzt sein, wollte sie in diesen Tagen überleben. Ihr Blut rauschte in den Schläfen, Kopfschmerz breitete sich aus.
Man erzählte sich furchtbare Gräuel. Der Flüchtlingstreck war unters Eis geraten! So viele ertrunken. Wer herauskam, erfror. Die Russen hatten sich über eisige Frauenleiber hergemacht. Schrecklich, was für eine Schande, was für eine Zeit. Alte Werte bedeuteten nichts mehr. Sie hatte Glück gehabt. Ihr Blut hatte ihr richtig empfohlen, der Umweg bewahrte sie, hatte sie bis nach Hessen kommen lassen, in das Schloss ihrer Tante.
Der Tod. Immer wieder trennt der Tod Menschen. Diese Trennungen für immer, unwiderruflich, ließen sie jedes Mal verzweifeln. Warum hatte man nicht einen Schalter, den man einfach umkippen konnte? Die Gefühle, den Schmerz ausknipsen? Das Loslassen fiel ihr schwer. Sie hing an alten Werten, wie an lieben Gegenständen. Sie klammerte fest, was sie in ihr Herz geschlossen hatte. Ihre Tante gehen zu lassen, war, als risse ihr jemand das Organ entzwei, welches das Lebensfluid durch ihren Körper drängte. Das, was so besonders sein soll, das was rot aussah, wenn sie sich eine Verletzung zuzog. Nicht blau!
Wieder ein Riss, ein Riss in die vertraute Welt. Ihr Kind ging studieren in diese weit entfernte Stadt. Warum bis auf einen anderen Kontinent? Wie sollte sie bei dieser Entfernung Einfluss nehmen, Werte vermitteln, schützend Mutter sein? Ein Schrei in ihre Kissen in der Nacht vor dem Loslassen, das sie nicht konnte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herzschlag war laut wie die Paukenschläge des Fähnrichs in der großen Schlacht. Das Weinen wollte nicht enden. Trocken und sandig brannten ihre Augen. In ihr alles blau, Hämatome der Seele.
Die Hand des Partners, so vertraut wie ein eigenes Muttermal, hielt sie schmerzhaft fest. Er beugte sich auf, röchelte, sah sie starr an. Forderte plötzlich: „Mathilde!“ Der Name seiner Mutter. Dann barst er. Tat einen letzten bemerkenswerten Seufzer und Ruhe breitete sich für einen Moment im Schlafgemach aus. Ihr Herz stand still, bis sich wieder das Blut staute und zu einer großen Flutwelle anstieg, an Schläfen und Brust brach und sich in einem Rauschen vermischte mit dem Schrei aus tiefster Seele, der sich Bahn spie. Sie fiel auf seinen Oberkörper, krallte sich weiter an seine Hand und brüllte wie eine, die ihren Verstand verlor. Zwei Dienstmädchen konnten die Alte nicht vom Bett zerren. Das Blut, das Band, zog sie wie ein Magnet immer wieder auf seinen Körper. Der Leib des Mannes, der sie hierher über die Halbinsel gebracht hatte, der ihr in all den Jahren ein Partner war. Der ohne Stammbaum und Titel ein Mensch mit Herz und Blut war. Rotem warmem Blut!
Ein Klingeln des Postboten. Ein Einschreiben! Dann unendliche Stille. Der fallende Brief erzeugte in ihr einen Klang, als wäre das Papier vom Gewicht einer Holzbohle. Ihr Mund geöffnet. Kein Atemzug. Sie sah in das Dunkel. Die Nacht hüllte sie ein wie in ein Trauertuch. Sie lauschte einem Wispern aus sich selbst. Es war das Raunen ihres Lebenssaftes, der weiter kaprizierte. Der, bis vor einen Augenblick in seinen Gefäßen keine Bewegung mehr gezeitigt hatte, erstarrt war wie das Atmen. Dann glitt sie auf den Boden und schrie. Schrie! Schrie nach ihrem Kind und schrie, bis die Pfleger kamen und die kreischende Frau in den Krankenwagen schoben. Das Blut stand immer noch still, rührte sich nicht, wollte nicht fließen, wollte stocken, bis der Elektroschlag des Defibrillators die Lebenspumpe anwarf. Das Blut war wieder im Fluss, nicht das Leben.
Sie liegt in diesem Bett. So lange schon. Die Binden, die ihre Arme am Gestell arretieren, schmerzen, schneiden in die zarte Haut. Das rote Blut färbt das Mullweiß. Die Mundwinkel sind trocken, die Zunge lederig. An ihrem Bett wird sie all ihrer Nächsten gewahr, die sie verlassen hatten. Sie muss Abschied nehmen. Kann es nicht. Hält fest, am Hier und Jetzt. Hört ihr schweres Rasseln beim Atmen. Sie ist etwas Besonderes. Sie schaut in ihr Herz, Erinnerung an die alte Heimat, an die Geschichten ihrer Mutter, ihr Erbe und sieht das blaue Blut.
Blau wie ein Himmel im Frühsommer, blau wie die Tinte auf dem Briefpapier an den Geliebten, blau wie der Druck des Stoffes für die Babywiege, blau wie die Treue zu dem eigenen Leben. Es war die Treue zu sich selbst, die Zuversicht: Die Kraft, die Mensch in sich trägt, weiterzugehen, wenn es kaum noch möglich ist. Die Treue, die alle Menschen miteinander in einem festen Band verknüpft, färbt blau. Das Herz, das Blut, die Seele. Kein Unterschied zwischen sich und jedem anderen Menschen, der liebt, der vermisst. Blau, die Treue, in Liebe von Generationen an die nächste weitergegeben. Nein, sie ist nichts Besonderes, sie hat nur dieses leuchtende Blau in sich. Es rauscht wieder in ihren Schläfen, stürmt voran. Ihr wird heiß und ein Licht kommt ihr entgegen, sie einzulullen in Wärme. Das Blau verblasst. Sie vergisst …
Heldinnen
Für Anette Bühler
Über mir an der Decke Quadrate … viele, ich beginne sie zu zählen … dreizehn in einer Reihe und abwärts? Vierzehn …
Der Raum ist abgedunkelt. 13 x 10 sind 130, 4 x 13 ist schon schwieriger, wenn sie dir die Vene in der Leistenbeuge aufschneiden. Es ziept. Au!
2 x 13 sind 26 mal 2 gleich 52 plus 130 … ah, 182 sind an der Decke, diese weißen langweiligen Quadrate mit Poren. Die Poren schlucken den Schall. Es surrt der Führungsdraht, wenn die Ärztin den Katheter in meinen Körper durch die Vene vorantreibt. Fies! An einigen Stellen, die irgendwie enger scheinen, kitzelt es. Und ich weiß, das Unangenehmste kommt noch. Ist die Katheter-Spitze in der Herzkammer platziert, kitzelt es und führt zu Rhythmusstörungen, die wiederum Husten, Herzhusten, hervorrufen. Ich liege ausgeliefert bereit und weiß, dass diese Frau, diese schöne Frau, ihr ganzes Können gibt. Sie mag mich, das weiß ich! Wir haben einen Draht zueinander, nein, nicht den Führungsdraht des Katheters. Ich vertraue ihr.
Ich sage: „Ich habe Angst, Frau Doktor.“ Sie lächelt und meint, dass es normal sei und sie werde sehr sorgsam mit mir umgehen. Ob ich eine Beruhigungspille bekam? „Ja“, bestätige ich nickend.
Ich sehe nur die weißen Quadrate der Decke in dem abgedunkelten Raum. Links von mir sind drei große Monitore, als ginge es darum, Breitwandkino zu offerieren. Ich schaue nicht dorthin. Ich kenne alles schon. Nicht mein erstes Mal. Ich möchte nicht meine pulsierenden Herzkammern begaffen, und schon gar nicht sollte sie Gefäßengen finden… das ängstigte mich beim letzten Mal extrem.
Die Kardiologin macht jeden Handgriff sehr zielbewusst, keiner zu viel oder zu wenig. Ich fühle, dass auch sie mich nicht länger untersuchen möchte, als notwendig. Einstudierte Routine höchster Konzentration und Präzision. Die beiden Schwestern wuseln unaufhörlich um meine Liege. Schreiben Maße auf… per Tastatur in einen Computer. Die Ärztin kommentiert, Durchlaufgeschwindigkeit, Klappendurchmesser, Rückfluss und solche Dramen.
Ich knete meine Finger und fühle bewusst die Bahn der herab rinnenden Schweißperlen an meinen Schläfen. Auch das kitzelt. Nur besser außen, als innerlich.
Die geschickt hantierende Ärztin sagt: „Eine Kammer haben wir ausgemessen, Herr Grünert, jetzt gehe ich in die andere Kammer und gleich sind wir fertig.“ Sie versucht, mich zu beruhigen. Ich finde es sehr mütterlich, dass sie ahnt, wie aufgeregt ich bin. Sie ist wohltuend empathisch und verbunden. Sie ist eine Traumfrau!
Ich sehe weiter auf die Quadrate an der Decke und knete unter dem chirurgischen Tuch meine Finger. Die sind nass, wie aus einem Spülbecken gezogen. Dann fangen die Quadrate an, zu tanzen, und drehen sich sehr schnell, als wären sie nun Kreise. Die Quadratur des Kreises fällt mir ein und ich sage noch: „Mir wird jetzt aber schwindelig!“
Eine Wiese… so grün und unheimlich schön. Blumen, und es duftet. Und dort kommt Cleo angerannt. Cleo! Wo kommt sie her? Und eine Frau. Die hat Cleo an einer Ausziehleine. Wie kommt sie zu meinem Hund? Cleo ist eigentlich tot. Eineinhalb Jahre schon. Aber sie freut sich so sehr und ich mich auch. Cleo!
Ich hocke mich und grinse breit, da mein Hund mich gleich umreißen wird. Ich werde auf dem Rücken liegen. Sie springt mich an. Ich habe die Arme ausgebreitet, versuche sie zu halten, aber 35 Kilo Kraft hauen mich um, wie ein Bowlingkegel durch die Kugel getroffen. Die Lefzen fliegen. Ich muss so lachen. Dieser, mein Hund, ist so schön. Mit einem harten Aufprall lande ich auf dem Rücken. Mich durchwellen Tsunamis des Glücks und der Freude. Ich rieche bewusst Cleos ganz besonderen Duft und bin der glücklichste Mensch der Welt. Es ist herrlich hier.
Aber wer ist diese Frau? Ich kenne Sie. Ganz gewiss habe ich Sie schon gesehen. Sie steht jetzt daneben, hat die Hundeleine losgelassen und lächelt ein so wärmendes Lächeln, das ich nur erwidern kann.
Immer noch halte ich die wild wedelnde Cleo fest am Körper, den Arm um ihren Rumpf geschlungen. Der Schwanz geht wie eine Antriebsachse, so heftig, dass die wedelnde Bewegung des Hundekörpers sich auf mich überträgt.
Die ältere Dame lächelt immer noch.
„Wir kennen uns!“, sagt sie. „Ja“, erwidere ich. „Ich weiß, aber woher, weiß ich nicht und wieso haben Sie meinen Hund?
„Ach, das ist ganz normal. Die Tiere laufen den Menschen zu, die geistig ihren Besitzern am nächsten stehen. Also wir müssen uns sehr nahe sein.“
„Aber wodurch? Bitte verraten Sie mir Ihren Namen.“
„Hedda Zinner.“
„Ah, ich habe ein Foto mit ihnen, wo ich auf Ihrem Schoß sitze, während einer Weihnachtsfeier, im Betrieb meiner Mutter. Meine Schwester sitzt neben uns beiden. Und ich weiß, dass Sie eine meiner frühesten kindlichen Erinnerungen sind.“
„Ich hoffe nur gute Erinnerungen, Joachim.“
„Ja. Ich fühlte mich sehr wohl auf Ihrem Schoß! Und hoffte, Sie seien mit uns verwandt und besuchten uns jetzt öfter. Ich kann nicht älter als vier gewesen sein.“
„Ja, so ungefähr, es war 1965.“
„Später, beim Betrachten der Fotos, erklärte mir meine Mutter, dass Sie Hedda Zinner sind.“
„Ich war zu der Weihnachtsfeier auch eingeladen. Wir Autorinnen und Autoren fuhren in der Weihnachtszeit in Produktionsbetriebe und lasen aus Geschichten oder Romanen. Kultur für Werktätige und ihre Kinder. Ich hatte gerade meine Erzählung `Wenn die Liebe stirbt` veröffentlicht und einige Preise erhalten, die mir aber nichts bedeuteten. Ich wollte immer nur die Menschen an die schönen Dinge des Lebens erinnern und Ungerechtigkeit verteufeln. Ich fühlte damals, dass du einen großen Gerechtigkeitssinn besitzt. Du wolltest, dass ich auch zu deiner Schwester nett sei und euch beide beschenke.“
„Frau Zinner, wie kommen Sie nun, bei allem Respekt, an meinen Hund?“
„Das sagte ich ja schon. Seelenverwandten läuft so ein Tier zu. Wir beide sind verwandt. Innerlich verwandt. Mein Glaube an eine gerechte, soziale, befriedete Weltgesellschaft muss dir auch sehr wichtig sein. Anders kann es nicht sein.“
„Ja, Frau Zinner, ich glaube an eine sich entwickelnde gerechte Welt, schon aus Gründen des Intellekts und der Vernunft. Jeder muss doch einsehen, dass es nichts mit Neid zu tun hat, wenn Güter allen gleichmäßig geteilt oder verteilt werden.“
„Obwohl du noch ein Kind warst, haben sich auf der damaligen Weihnachtsfeier unsere Seelen angenähert, wenn man von Seelen sprechen möchte. Man kann auch Geist oder Lebensenergie sagen. Eine synchrone Schwingung vielleicht. Das führte nebenbei dazu, dass auch dein Hund Cleo mir zulief. Ich habe dir ein Gedicht mitgebracht, das heute wieder sehr aktuell ist. Damals sollte die Ukraine die Kornkammer des sogenannten Großdeutschen Reiches werden. Getreide, Eier, Vieh. Heute ist es die strategische Lage, welche die Ukraine zum Spielball der Mächte macht:
Siehste auf die große Frage,
die uns quälte all die Tage;
wozu so viel Blut vergossen,
wozu so viel Tränen flossen,
wozu dieser Krieg denn sei?
Ist die Antwort: Für ein Ei.
Für die Eier fielen wir in Russland ein.
Da biste platt,
wat?
Dreieinhalb Millionen Leichen
in den Weiten Russlands bleichen.
Nicht umsonst sind sie gefallen,
sieh, ihr Tod, er nützt uns allen.
Denn für jeden toten Mann,
rollen jetzt zehn Eier an.
Eier aus der Ukraine,
wat sagst Du?
Da biste platt,
wat?*
„Ein Ei!“, ich lache und unterdrücke es sofort, „Aber wo bin ich denn hier? Ich war doch eben im Krankenhaus.“
Es gibt einen Ruck, der Boden bebt und es knallt laut. Frau Zinner und der Hund fliegen wie von einem Trampolin geschleudert gen Himmel.
Über mir wieder die weißen Quadrate. Das Gesicht einer Schwester hektisch über meinem Gesicht von stirnseits. Jemand ruft: „Er ist wieder da!“
Auf meiner Brust brennt es wie Feuer. Ich denke an Salz – oder Schwefelsäure, reibe über meine Brust und sage: „Es brennt so sehr.“
Meine Ärztin lächelt und streicht über meine Wange. „Alles gut!“, sagt sie. Jedoch mit so besorgtem Blick, dass mir mulmig wird.
„Ich habe ganz komisches Zeug geträumt. Was ist passiert?“
Später im Krankenbett liegend, erzähle ich meiner Nichte davon. Sie sitzt auf dem Besucherstuhl und sieht mich mit gefurchter Stirn an. Das ist der besorgte Blick einer Krankenschwester. Mit fester Stimme sagt sie, ich solle mal mein T-Shirt hochheben. Auf meiner Brust zwei juckende rote Abdrücke, als hätte jemand zwei Bügeleisen dort abgestellt. „Die haben dich zurückgeholt. Du warst weg!“
„Defibrillator?“, frage ich. „Ja … “, raunt sie mit schmalen Lippen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
Später suche ich im Internet mehr Angaben zu Hedda Zinner und treffe auf die Biografie einer interessanten Autorin und Publizistin. Sie ist Zeit ihres Lebens für ein gerechtes humanistisches Weltbild eingetreten. Ich bin beeindruckt. Ich suche nach Literatur und möchte etwas kaufen. Jedoch wird nirgends etwas angeboten, außer auf Internetseiten von antiquarischen Buchhändlern. Ich bin enttäuscht. Keine Gesamtausgabe? Keine E-Books.
Ich suche im Internet Straßennamen mit Hedda Zinners Namen, einer Frau, einem Frauenbild, mit lebensbejahenden politischen Ansichten. Ich finde nur eine kleine Straße in der Bundesrepublik: Hedda-Zinner-Weg in Rostock. Keine anderen Erinnerungen an sie …
Jetzt gebe ich in die Suchmaske Bismarck, Hindenburg, Kaiser, Prinz, Richthofen, Hoeppner ein und breche dann ab… so viele Alleen, Straßen, Plätze, die an Männer erinnern, welche namentlich für Militarismus und Krieg stehen. Geboren werden Helden von Frauen.
Ich suche noch weitere namhafte Frauen in Straßennamen und allgemein im Netz, die meiner Meinung nach unserer Republik in der Erinnerungskultur einen würdigen Platz hätten…
Flora Tristan
Sophie von Hatzfeldt
Mathilde Franziska von Anneke
Louise Otto-Peters
Louise Michel
Eleanor Marx
Emma Ihrer
Clara Zetkin
Beatrice Webb
Lily Braun
Emma Glodman
Rosa Luxemburg
Marie Juchacz
…
_____________________
*Hedda Zinner (ca. 1941)
Koffer in Berlin
Für Gisela Köppe
Er freute sich diebisch. Wieder war ihm dieser Streich gelungen. Sonja war ihm fast böse. Sie hatte Geburtstag, umringt von Gästen, die Schatulle geöffnet und sich zuckend erschreckt, als dieses Etwas herausgesprungen war. Ein Raunen war dann durch das Wohnzimmer geklungen, nur Rainer lachte nicht enden wollend und herzhaft über seinen eigenen Scherz. Alle kannten seine manchmal rücksichtslosen Witze und Streiche. Seit Jahren waren sie befreundet und hatten inzwischen Berufe, wie Bäcker, Lehrerin, Postbote, Fleischer, Drogistin und Verwaltungsangestellter.
Sie waren gemeinsam erwachsen geworden. Man verzieh Rainer, wenn er sich mit seinem charismatischen Grinsen entschuldigte. Jeder konnte sich auf ihn verlassen, er war immer ein guter Freund. Dieser Geburtstag, Ende Oktober 1977, war nun zu Ende. Der Streich war fast vergessen und die Gäste brachen auf.
Sonja war wieder allein und hing ihren Gedanken nach. Sie kreisten noch um den „Mann Rainer“, den sie schon so lange kannte und mochte…
Einige Wochen später war Rainer unterwegs zu Sonja und folgte damit ihrer Einladung zum Abendessen im engsten Freundeskreis. Er trug seinen neuen Pfeffer-Salz-Mantel, den er im modernen HO-Geschäft erworben hatte. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, da der regenschwere Wind des nasskalten Novemberabends ihm heftig schneidend ins Gesicht blies.
Auf dem Weg zum Taxistand, sah er die defekte Leuchtwerbung, die signalisierte: „Ber..ner Ensemble“. Er freute sich dieses Wortspieles. Bern, nie würde er nach Bern kommen, das stand fest.
Er schritt weiter auf dem holprigen Pflaster und sah zum Grenzübergang hinüber, der matt leuchtete und wie ausgestorben wirkte. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Bern und der Übergang, er sollte einfach da hinein gehen. Und wenn die Grenzer ihn festnehmen wollten, würde er sagen, er hätte doch nur Spaß gemacht. Grinsen. Ein Zögern, ein Verlangsamen seiner Schritte und ein sehnsüchtiger Blick zu dem milchig verglasten Gebäude. Seit den Lockerungen im innerdeutschen Grenzverkehr, hatte der Volksmund das Gebäude „Tränenpalast“ getauft. So genannt, wegen der vielen Begrüßungs- und Abschiedstränen in und vor ihm.
Die Taxisäule war in Sichtweite. Er beschleunigte wieder seine Schritte. An diesem Taxistand, vor dem Bahnhofsgebäude, standen viele Menschen. Sie warteten in diesem abendlichen Grau und Nass und standen Schildkrötengleich in sich gekehrt.
Er erkannte Westberliner an ihrer Kleidung und ihren Schuhen, die qualitativ hochwertiger als die DDR-Waren aussahen.
Er stand in der Reihe der Wartenden und wurde von einer jungen Frau angesprochen: „Werseihen Sie, darf ich bieten Sie uhm Gefahlen…?“
Er sah in ein sommersprossiges Gesicht, mit klaren Augen und zierlicher Nase, welches ihn an Shirley MacLaine erinnerte. Durch diesen Anblick, der ihm sehr gefiel, wurde er hellhörig und aufmerksam. „Iesch bin Giselle, kommen aus Polen und werden haben Gastschpiel an „Komischen Oper“.“
Das alles sprach sie mit diesem entzückenden slawischen Akzent. Alles würde er für diese Frau tun, er fühlte sich hypnotisiert und starrte sie offenmundig an.
Sie erzählte weiter, dass sie unbedingt nochmals ins Bahnhofsgebäude müsse, da sie beabsichtigte, sich einen Stadtplan zu kaufen. Sie bat, er möge so nett sein und auf ihren Koffer aufpassen, bis sie zurück sei. Rainer hatte den Zweck seines Aufenthaltes am Taxistand vergessen. Er war bereit, Giselle zu Diensten zu sein. Er dachte an Musik, Gesang und Instrumente. Er grinste beim Gedanken an Blasinstrumente süffisant und nickte ihr eifrig zu.
Giselle entschwand in dem grauen Gebäude mit leichtem Schritt. Über dem Eingang flatterte klatschnass ein rotes Polit-Plakat. Rainer sah aber nur das runde Hinterteil der jungen Polin im Bahnhofsgebäude verschwinden …
Minuten später stellte er fest, dass er nicht bemerkt hatte, wie viele Fahrgäste inzwischen fort waren. Da erleuchteten gerade wieder heranrauschende Scheinwerfer die Wartenden. Ein Paar mit Reisetasche und bunten Plastiktüten stieg in das Auto.
Er bückte sich nach Giselles Koffer, gewissenhaft, fast zärtlich, hob er diesen an. Das braune Behältnis war sehr schwer. Sofort kam ihm in den Sinn, dass synthetische Unterwäsche in Pastellfarben nie so gewichtig sein könnten.
Ein weiteres Taxi kam und nahm einen Herrn in schwarzem Ledermantel mit. Er trat von einem Bein aufs andere und blinzelte in die Runde, erwartete Giselle zurück.
Rainer hob das Gepäckstück erneut an, trug es einen Meter weiter und war fast stolz darauf, das Vertauen der schönen Polin zu genießen.
Wo blieb sie nur? Schon wieder war ein Wolga vorgefahren. Er wurde ungeduldig und sah den Beweis für Giselles Existenz missmutig an. Sonja und die wartenden Freunde kamen ihm in den Sinn.
Vor ihm warteten nur noch drei Passanten auf eine Mitfahrgelegenheit.
Er hatte fast entschieden, Giselle nach ihrer Rückkehr in sein Taxi mit einzuladen, ihr den Koffer bis in ihre Unterkunft zu tragen. Er wollte sich ganz als „Kavalier alter Schule“ zeigen, doch ihr Wegbleiben lies ihn am Entschluss zweifeln.
Eine ältere Matroschka neben ihm, fragte mit spitzem Ton unerwartet, ob er seinen Koffer nicht zur Seite stellen könne. Sie behauptete, ständig Gefahr zu laufen, über diesen zu stolpern, wenn sie Ausschau hielt. Er sah sie an, müßig zu erklären, dass es nicht sein Koffer sei. Er erwiderte nur kurz angebunden, dass sie ohnehin nichts sehen könne, da die Taxen aus dem Rondell von der anderen Seite angefahren kämen.
Sie sog empört die kalte Luft ein und lies sie mit einem „tz, tz, tz“ wieder als nebelige Wolke herausfahren.
Rainer hatte sich schon wieder abgewandt und wurde wegen Giselle ungeduldig. Er sah aufgeregt hin und her und erkannte dabei, wie die drei Personen vor ihm, gemeinsam ins Taxi rutschten.
Der Nächste also war er selbst, der einsteigen könnte. Wo blieb Giselle? Der Koffer, vom Regen ganz fleckig geworden, stand wie eine aufweichende Lehmmauer neben ihm. Er hatte gar keine Zeit weiter nachzudenken, als ein Wartburg vorfuhr.
Kurz wechselten in seinem Hirn die Namen Sonja und Giselle als flackernde Leuchtwerbung. Sollte er dieser Pelzrolle Vortritt lassen? Einige Sekunden verstrichen, da rief der Fahrer aus dem Font: „ … wird dat nun bald wat hier?“
Rainer sah zum Bahnhofsgebäude zurück, dann zum Taxifahrer, sah die Frau an und meinte: „Wollen Sie vor mir fahren?“ Die zeterte los: „Wie kommen Sie mir denn vor? Ich bin doch keine Großmutter! Ich bin in den besten Jahren und wäre Ihnen dankbar, wenn sie endlich aus meinem Blickfeld entschwänden!“
Rainer schüttelte den Kopf. Er musste eigentlich los, ihm war kalt, er dachte an Sonja und die Verabredung, er sah auf die Uhr und entschloss sich zu fahren. Mit Schwung war er auf dem Hintersitz des Taxis gelandet, da keifte die Beste-Jahre-Dame schon: „Ihr Koffer!“
Er lehnte sich aus dem Fahrgastraum und meinte: „Da kommt gleich eine junge Frau, der gehört ihr“. Kampfbereit steckte die Wachsame kurz entschlossen ihren Schirm wie ein Bajonett in das Taxi. Der Chauffeur hatte seine Laune dem Schlechtwettertag „1:1“ angepasst und sprang wutentbrannt aus dem Pkw. Er lief um das Fahrzeug herum und stürmte auf die Dragonerin zu. „Wat fällt Ihnen denn ein, woll´n Se meenen Wagen ramponieren? Wohl ne Meise, wa?“
Sie scharf zurück: „Junger Mann, er hätte seinen Koffer vergessen ohne meinen Einsatz!“
Rainer verdrehte die Augen, sah hilfesuchend zum Bahnhofseingang. Wer weiß, welches Märchen Giselle ihm aufgetischt hatte.
„Das ist nicht mein Koffer“ sagte er kühl. Da kreischte die kampflustige Dame, mit dem rechten Zeigefinger auf Rainer zeigend, für jeden hörbar: „Das habe ich mir gedacht, dass was nicht stimmt, er lügt, … er ist ein verdammter Lügner!“
Rainer stöhnte, ergriff die Autotür, als sich wie aus dem Nichts ein Ausweis in sein Sichtfeld schob. Er las: „Ministerium des Innern“, und dachte: ‚Oh nee, nicht die Stasi auch noch …‘.
„Aussteigen! Mitkommen!“
Ein zweiter Mann, gleich gekleidet, stand dabei. Nicht widersprechend, drehte Rainer sich vom Sitz hinaus in den Regen. Die Fettel eroberte sofort schamlos das Taxi. Zwei Zangengriffe an seinen Oberarmen führten ihn und Gepäck nun in Richtung Tränenpalast.
Rainer würde nun diesen unheimlichen Bau betreten. Die Männer gingen mit ihm, ohne aufgehalten zu werden, in ein kleines Wachzimmer. Sie schlossen die Tür hinter Rainer. In dem Raum gab es nur einen Stuhl. Der stand an einem Tisch, der dort scheinbar schon für viel Reisegepäck Platz geboten hatte. Sie setzten Rainer mit einem barschen Schulterdruck vor das schwere Behältnis und befahlen ihm einsilbig: „Aufmachen!“.
Rainer konnte nicht stillsitzen, beteuerte seine Unwissenheit und versicherte, dass ihm dieser Koffer nicht gehöre.
Man drohte, das Gepäckstück gewaltsam zu öffnen. Rainer zuckte nur noch mit den Schultern. Der Wortlose der beiden Beamten brach nun in roher Gewalt den Koffer auf. Im gleichen Augenblick wurde er blass und ging mit geweiteten Augen vom Tisch zurück. Sein Blick hatte etwas Kuhähnliches. Sein Kollege sah ihn missmutig an und schnauzte: „Was?“ Der Andere zeigte nur auf den Kofferdeckel.
Rainer rann Schweiß am Rücken hinab und er hatte Magenkrämpfe. Er spürte, dass jetzt etwas Ungeheuerliches passierte und vertraute dennoch gedanklich dem unschuldigen Antlitz von Giselle.
Der zweite Beamte hob, Abstand haltend, den Deckel des Koffers und versetzte ihm einen Schwung. Der Deckel fiel nach hinten über und gab das Innere frei.
Rainer hob sich entsetzt von seinem Stuhl und sah mit gelähmtem Ausdruck hinein. Blutige Knochen waren zu sehen! Rohes Fleisch, frisch geschlachtet, das von purpurn zu braun und Lilatönen, marmoriert mit weißen Fettstreifen, viele Schattierungen aufwies. Das geronnene Blut bildete Klumpen und Fäden, die zum Teil schwarz anmuteten. Auf dem ekelerregenden Berg lag ein verschmierter, ehemals weißer Zettel, mit fetten schwarzen Buchstaben beschrieben.
Der Beamte nahm diesen mit spitzen Fingern hoch und die drei lasen:
„Rainer, das sind die Knochen, all der Bären, die Du uns aufgebunden hast.
Deine Freunde“
Geburtstagspost
Der Postbote klingelt. Ich gucke verträumt auf die große gelbe Plastiktüte, die mit mehreren bedruckten Klebestreifen überdeckt ist.
„Diese Zustellung wurde zur Adressermittlung geöffnet!“
Ich leiste die Unterschrift an der Stelle, die mir der Bote zeigt.
Der Postmann meint: „Wollen Sie die Beschwerdeadresse für die Zustelllogistik? Dann habe ich hier ’nen Vordruck für Sie.“
Er reicht mir ein Formular. Mich drängen im Kopf tausende Fragen und ich weiß nicht, was der will.
„Wie? Wieso? Was ist das? Ich habe nichts bestellt.“
Der Briefträger sagt: „Nein, nein, das ist ein Brief, der leider in den Weiten der Deutschen Post herumirrte. Meine Kollegen behaupten, eine so lange Laufzeit hätten sie noch nie erlebt. Ist ja auch was. Bei uns kommt eben nichts weg. Guten Tag!“
Ich gehe zwei Schritte zurück, schiebe die Tür zu und blicke auf das total verklebte Etwas.
Es ist Din-A4 groß!
Adresse ermittelt … Adressat verzogen… Empfänger unbekannt … Postleitzahl recherchiert … Nicht nachsenden! … – unzählige Stempelabdrücke.
Ich lese: „Weißensee, Charlottenburger Straße 18“ und bekomme Herzklopfen.
Dann sehe ich „Rosenfelder Str. 18“ und kann „Müggelheim: Nachsendeantrag Karlshorst, Gundelfinger 1“ erkennen. Mir wird schwindelig. Was ist das?
Ich setze mich an den Esstisch, lege den großen gelben Plastikbeutel vor mich auf den Tisch, streiche ihn glatt und frage mich: „Warum?“.
Auf der Straße hupt ein Auto, aus Angst gestohlen zu werden, im Dauerton.
Cleo, unsere Hündin, legt sich zu meinen Füßen und brummt, will sagen, dass dieses Hupen nervt.
Ich starre geradeaus und wünsche mir eine heiße Tasse Kaffee.
Wie fremdbestimmt erhebe ich mich und gehe in die Küche. Der Plastikbeutel auf dem Tisch macht mich zwar neugierig, aber wie ein Bombenentschärfer will ich mir die nervenaufreibende Öffnung der Wundertüte aufsparen, mich konzentrieren, es genießen, jeder Handgriff muss sitzen.
Ich spüre, das ist besonders wichtig. Was da liegt ist etwas Bedeutendes zu meinem Fünfzigsten?
Mit wenigen Griffen habe ich Kaffee angesetzt. Die Kaffeemaschine blubbert mir zu: Das wird von Martina sein, die im Streit die Tür zugeschlagen und sich nie wieder gemeldet hatte.
Das Auto hupt energischer: Nein, das wird von deiner Schwester sein. Sie bereut den Abbruch eures Kontakts wegen des Streites um ihren Machobräutigam.
Ich sitze auf einem Küchenstuhl und grübele. Cleo kommt getrottet, legt ihren Kopf auf meinen Schenkel. Sie fixiert mich und sendet mir telepathisch ihre Meinung: Nein, nein! Der Brief ist von Nicole, die dich angeschrien hatte, sie hätte keine Lust mehr, sich zu rechtfertigen.
Langsam gehe ich zum Küchenschrank. Der Kaffee duftet. Die Tasse füllt sich mit dunklem Trank, die Milch färbt ihn rehbraun.
Vorsichtig, nicht zu schwabbern, gehe ich zum Esstisch zurück, stelle den Kaffeepott in sicherem Abstand zu dem gelben Päckchen auf den Tisch.
Warum klopft mein Herz so?
Vielleicht, weil ich morgen fünfzig Jahre zähle? Und, weil ich am kommenden Samstag viele Freunde aus allen Jahrzehnten meines Lebens treffen werde?
Sicher, da ist eine Überraschungsparty geplant und um mich herum ist viel an Geheimniskrämerei. Sicher auch, ich ahne nicht einmal, wo ich feiere. Ich weiß nicht, mit wem.
Und nun dieser Brief, dieser fehlgeleitete, irrgelaufene Brief.
„Charlottenburger Straße 18!“
Ich bin vierzehn. Der Kohlenhof mit den lauten schwarzen Männern auf der gegenüberliegenden Straßenseite bestimmt den Charakter der Gegend. Geruch nach Kohle, frischem Holz, der Staub in der Luft! Das Geräusch der Holzhackmaschine, die gebrüllten Rufe, die das Hacken übertönen. Meine Unsicherheit, wenn ich in das schwarz gefärbte Büro soll.
„…geh, frag nach zwei Zentnern Kohle auf Karte, so schnell wie möglich, sonst frieren wir ab nächste Woche!“
Warum macht das Mutter nicht selbst?
„Was willste?“, dröhnendes Lachen. Ich zucke zusammen.
„… ja, sonst frieren meine zwei Schwestern, meine Mutti und ich ab nächste Woche“, sage ich wahrheitsgemäß und kleinlaut.
„Na , jib mal her deine Karte, du Prinz!“
Dahin sollte der Brief gegangen sein? Oder ein Fake, eine Überraschungsidee?
„Rosenfelder 18“ … meine erste Wohnung, ein Zimmer, Kochnische, Bad, erste Etage.
Wie schön die Möbel meiner geliebten Großmutter darin aussahen; mich an sie erinnerten.
Sie war gerade verstorben, hatte die Wohnung nicht mehr kennengelernt.
Was habe ich da erlebt?!
Die Nachbarin, die nach einem Solidaritätsbeitrag für die Volkssolidarität fragte und in meinem Bett landete. Marina nebenan, die mich bat, auf ihre Tochter zu achten. Beatrice, mit der ich Hausaufgaben machte. Die Straße, auf der Panzer Richtung Osten dröhnten, als in Polen Solidarność zum Problem für den Warschauer Pakt wurde. Diese Jahre des Aufbruchs, des Umbruchs. Da war der Brief gelandet? Dieses gelbe Päckchen?
„Schönhauser Allee“ … Drei Zimmer hatte ich da, habe die Feste gefeiert wie sie fielen, habe das Leben in vollen Zügen genossen. Die Wende lag hinter uns. Ich kannte die kleinen, die neuen und die großen Stars der Musikszene in den Neunzigern. Manche Nacht kam ich nach Hause, ohne am nächsten Tag zu wissen, wie.
Auch da hatte dieser Gelbe versucht, mich zu erreichen.
„Müggelheim“, mein trautes Heim, in Wohlstand und Glück, wie „Emil Pelle auf seiner Gartenlandparzelle“.
Cleo war Familienmitglied geworden. Der Wald, die Seen, die Ruhe. All das.
Das Haus! Schon Jahre zurück! Werde eben Fünfzig! Ein halbes Jahrhundert!
Warum wage ich nicht, den Brief zu öffnen?
Ich nestele an der Plastikfolie. Das liegt da wie ein Geschichtsprotokoll, hat den Kalten Krieg überlebt, die Achtziger, die Wende, die Neunziger und erreicht mich einen Tag vor meinem großen Jubiläum.
Was für ein Scherz ist das?
Endlich reiße ich die Folie vollständig auf.
Ein kleiner Brief rutscht heraus. Das Schriftbild lässt meinen Atem stocken. Ich kenne diese Bögen an den Anfangsbuchstaben der Worte, ich kenne diese hohen Anstriche.
Heinrich Weber
Charlottenburger Str. 18
112 Berlin
Absender
Annemarie Meier
Straße der DSF 28
156 Teltow
Mir läuft kitzelnd eine Träne über die Wange. Ich sehe, wie der Briefbogen in meiner Hand zittert.
Ich höre mich atmen, mein Herz drückt, Kindheitserinnerungen wirbeln durch meine Gedanken.
Teltow, den 7.02.1979
Mein lieber Junge,
zu Deinem 18. Geburtstag wünsche ich Dir alles Gute.
Du bist nun endlich mit diesem Tag in die Welt der Erwachsenen aufgenommen.
Ich bin sehr stolz auf Dich und was aus Dir geworden ist. Emmi Böhm hat sich auch sehr gefreut, dass Du Deine Prüfungen bestanden hast, sogar die Giftprüfung, vor der Du solche Bange hattest.
Wir sehen Dich schon mit weißem Kittel in Deiner eigenen Drogerie stehen.
Du weißt, dass ich Dich sehr liebe und ich freue mich auch schon auf das kommende Wochenende.
Bei Hertie am Ku-Damm gab es leider nicht die von Dir gewünschte Jeans, man sagte, Schlauchjeans seien schon aus der Mode. Aber ich bringe Dir etwas anderes Schönes mit. Ich freue mich sehr, meinen Großen in die Arme zu nehmen.
Meine Liebe zu Dir ist eine riesige Wolke, die mein tägliches Leben zu einer großen Freude macht.
Grüße an Deine Schwestern und Mutti,
fühl Dich umarmt und geküsst
Deine Omi.
Fröstelchen und Klara
Fröstelchen ist der Sohn vom großen dicken eiskalten Väterchen Frost. Den kennt ihr ja, oder?
Väterchen Frost kommt, wenn die letzten Äpfel geerntet sind und der Rosenkohl schon sehnsüchtig auf ihn wartet. Dann wandert er durch die Natur und überall, wo er vorbeikommt, hinterlässt er Frost und Reif und Schnee.
Sein Sohn, der Fröstelchen, will es ihm später einmal gleichtun. Aber noch ist er zu klein.
Er hat eine spitze Nase, ganz blasse Haut und trägt ein weißes Nachthemd. Auf seinem Kopf hat er nur drei silberne Haare, die klingeln leise, wenn er herumspringt. Er zittert noch sehr, weil er sich noch nicht an die Kälte gewöhnt hat. Das musste auch Väterchen Frost erst einmal lernen, als der ein Fröstelchen war.
Erst wenn es dunkel ist, springt Fröstelchen von Baum zu Baum und hinterlässt ganz zarten Reifpuder. Er eilt meistens seinem Väterchen voraus. Er schafft es sogar manchmal, dass am Morgen kleine Eiszapfen an der Regenrinne hängen. Klare silbrige Zapfen, eiskalt und feucht. Wenn die ersten Sonnenstrahlen scheinen, muss Fröstelchen zu Hause sein, sonst würde er zerfließen, wie seine Eiszäpfchen, die sich in Tränen von der Nacht verabschieden.
Eines Tages hüpft der kleine Fröstelchen wieder von Baum zu Baum und Ast zu Ast, von Dach zu Dach und pustet feinen weißen Reif, wie Puderzucker dorthin, als sich ein Fenster öffnet und Klara hinaussieht. Er kennt Klara nicht, noch nicht. Und Klara kennt Fröstelchen nicht, noch nicht.
Fröstelchen hüpft näher, will sehen, was Klara da auf dem Kopf hat, es sieht weich und lustig aus. Klara hat ihre neue Wollmütze aufgesetzt. Und er will sich ihre Haut genauer ansehen, die nicht so weiß, wie seine ist.
Klara sucht die Schneeflocken, die ihre Oma versprochen hat. Aber es ist weit und breit nichts zu sehen. Fröstelchen springt direkt auf das Fensterbrett vor Klara und sagt:
„Guten Tag. Wer bist du denn? Ich bin Fröstelchen!“
Klara erschrickt und sieht genauer hin.
„Ich bin Klara, bist du ein Vogel?“
„Nein, nix da Vogel, du piepst wohl?“
Klara lacht.
„Na, was denn sonst? So etwas kleines Niedliches wie dich sah ich noch nie!“
„Ich bin Fröstelchen, sagte ich doch, sicher kennst Du mein Väterchen?“
„Wen?“ Klara ist unsicher, kennt sie doch eigentlich nur Mutti, Papi, Omi, Opi, Frau Herbst und Tante Frieda. Mehr Leute kennt sie nicht. Jedenfalls nicht in echt. Die Leute auf der Straße, auf dem Weg in die Kita, die zählen nicht. Ob da ein Väterchen von Fröstelchen schon dabei war, weiß sie jetzt leider nicht.
„Na meinen Vater, Väterchen Frost. Der bringt den Winter, Eis und Schnee.“
„Kenn ich nicht“, sagt Klara und „aber meine Omi kennt den, wenn er die Schneeflöckchen bringt. Morgen kommt der Weihnachtsmann und meine Omi sagte, wir bekommen weiße Weihnacht.“
„Wen?“ fragte nun Fröstelchen, „wollt ihr weiß machen?“
„Na, die Weihnacht, die wird weiß von Schnee, dann bekomme ich einen Schlitten geschenkt. Darauf freue ich mich schon so lange!“
Fröstelchen überlegt. Er stützt dabei sein kleines weißes Kinn in seine kleine weiße Hand und sagt immer „Ohjeminee, ohjeminee, ohjeminee“.
Klara lacht laut.
„Warum lachst du?“, fragt Fröstelchen.
Klara äfft ihn mit Hand unter dem Kinn nach „Ohjeminee, ohjeminee, ohjeminee!“.
Nun lachen beide. Beide lachen so herzlich, dass Fröstelchen auf den Rücken fällt und sich über seinen kleinen Bauch streicht. Endlich, als er wieder aufsteht, bleibt an der Stelle des Fensterbrettes ein kalter weißer Puderfleck.
Klara staunt.
„Was hast du da gemacht?“, fragt sie.
„Ach, das ist Reif, den verstreue ich, damit die Bäume, Blumen und Gräser schlafen können. Das ist die Schlafdecke.“
„Aber, das ist wie Schnee“, sagt Klara.
„Ja, Schnee geht so ähnlich, das kann ich aber noch nicht, das lerne ich noch!“
„Ach und morgen ist schon Weihnachten. Lernst Du es bitte schnell bis morgen?“
„Ohjeminee“, sagt Fröstelchen und beide lachen wieder.
Fröstelchen springt an die Regenrinne, wirbelt dort um seine eigene Achse und hinterlässt eine Kette aus Eiszapfen, in denen sich herrlich das Licht bricht. Sie funkeln und glitzern, dass es Klara ganz feierlich zumute wird.
„Ja und nun noch Schnee, ich will doch einen Schlitten vom Weihnachtsmann“, sagt sie. Und Fröstelchen guckt sie ganz nachdenklich an.
Beide sagen im Chor „Ohjeminee“ und lachen wieder.
Fröstelchen zeigt zur Kirchturmuhr „Klara, es ist noch weit nach Hause und ich muss ins Bett.“
„Ich auch, eigentlich sollte ich schon längst schlafen, also gute Nacht Fröstelchen, sehen wir uns wieder, kommst Du morgen?“
„Mal sehen“, blinzelt Fröstelchen und wirbelt, alles weiß bepudernd, fort.
Am nächsten Tag ist Heiligabend. Klara schläft viel länger als sonst. Endlich weckt sie ihre Mutti auf und befühlt ihre Stirn.
„Wirst du krank, Klara?“, fragt sie.
„Nein, ich konnte so lange nicht schlafen, da sah ich aus dem Fenster letzte Nacht und traf Fröstelchen!“
Die Mutter holt kopfschüttelnd das Fieberthermometer und steckt es Klara, die protestieren will, in den Mund.
„Bleib liegen, du fieberst ja!“
„Ähäm“, schüttelt Klara den Kopf.
Nach dem Prüfen des Thermometers darf Klara aufstehen, sie ist nicht krank.
Klara läuft sofort zu ihrer Omi und erzählt ihr die Geschichte der letzten Nacht. Omi hört aufmerksam zu und nickt immer wieder, bis sie meint „Dann wird alles noch weiß, du wirst sehen“.
Kaum hat sie ausgesprochen, beginnt es zu schneien. Es schneit Riesenflocken, so dick, dass man nur drei Stück braucht, um einen Schneeball zu formen. Die Nachbarskinder hatten schon Schneemänner gebaut und amüsieren sich bei Schneeballschlachten.
Klara sitzt am Fenster und sieht in die Ferne. Sie ahnt, von wem der Schnee kommt und denkt an Fröstelchen und sein Väterchen.
Am Nachmittag liegen unter dem Weihnachtsbaum viele Pakete. Ein Geschenk ist dabei, so groß, dass kein Papier gepasst hat. Der Weihnachtsmann band einfach nur eine Schleife drum. Klara juchzt vor Freude und setzt sich sofort auf ihren Schlitten. Der hat vorn zwei Griffe, an denen hält sie sich fest und spielt Schlittenfahrt.
Ihr Vati meint sofort „Na los Klara, komm, wir gehen zum Hügel, es schneit ja immer noch wie verrückt. Aber wir müssen uns beeilen, es ist ja schon fast dunkel.“
Beide stapfen mit Stiefeln und dicken Mänteln, Mützen und Handschuhen, den Schlitten hinter sich herziehend, den Hügel hinauf. Oben angekommen sagt Klaras Papi: „Setz dich, ich gebe dir einen Schubs!“
Klara setzt sich, hält sich an den beiden Griffen fest und schon saust sie den Hügel hinunter. Ein ganzes Stück Weg gleitet sie. Plötzlich hört sie eine Stimme: „Na Klara, hast du dich gefreut?“
„Oh Fröstelchen, und wie, toll hast du das gemacht. Du bist ein lieber Freund!“, antwortet Klara und fühlt Fröstelchen auf ihrer Schulter sitzen.
„Nein, das war ich nicht“, sagt er ein wenig kleinlaut, „aber ich konnte mein Väterchen überreden, den Schnee zu bringen und soll Dich schön grüßen. Tschüss, ich muss weiter, lernen, Schnee zu machen!“.
Fröstelchen winkt und Klara auch, so lange, bis sie sich nicht mehr sehen.
Der Vater kommt gelaufen und fragt:
„Wem winkst du da?“
Denn Vatis und Muttis können Fröstelchen nicht sehen.
„Ach meinem Freund“, sagt Klara und „Ohjeminee“.
Sie lacht. Ihr Vater aber klopft den weißen Reif von ihrer Schulter. Und beide gehen glücklich nach Hause.
Ahmed
Hallo! Es ist eine wunderschöne Seite, die ich gefunden habe. Ich habe alle Geschichten durchgelesen. Ich kann sagen, dass mir die Geschichten sehr sehr gefallen. Love you.
Bernd
Hi Ahmed, ich danke Dir sehr für Deine lobende Erwähnung, vg Bernd