Gespiegelte Gier
Ein Schmatzen riss ihn aus dem Schlaf, er tauchte aus pittoresken Welten auf. Sein eigenes Schnarchen hatte ihn aufgeschreckt. Hatte er dabei so laut geschmatzt? Es hallte deutlich in ihm nach, er wurde wütend. Warum weckte diese Grunzatmung ihn, Schnarcher werden doch sonst auch nicht wach? Es war ihm in den Nächten zuvor ähnlich ergangen. Er drehte durch; brauchte Schlaf!
Noch war Benommenheit. Die Geräusche der Straße, das Klirren seiner Deckenlampe waren in seine Träume eingedrungen. Das Wackeln der Lampenschalen rührte von den nicht enden wollenden Schritten her, die in der Wohnung über ihm tappten. Es war die Anonymität der Großstadt, die ihm eigentlich Ruhe bringen sollte, wer auch immer da oben wohnte, man sollte hoch gehen und die Person erschlagen. Rücksichtslosigkeit!
Hellwach war er nun. Wie von einem Gummizug gezogen klappten seine Augen auf und starrten ins Leere, ins Dunkel seines Schlafzimmers. Über ihm die Schritte, welche die Leuchte zum Klirren brachten. Hin und wieder projizierte ein vorbeifahrendes Auto mit seinen Scheinwerfern bizarr schöne Lichtreflexe an die Zimmerdecke. Die glitten wie Phantome bis zur gegenüberliegenden Wand und ließen nur Schwärze zurück, leblose traurige Schwärze.
Er stand auf, tastete mit den Füßen nach dem Schuhwerk und wankte ins Bad, ohne das Licht anzuschalten. Ihm genügte der fahle Schein der Straßenlaterne, der nach dem Spiegel fingerte. Matt schimmernd waren die Umrisse des Klobeckens und der Wanne zu sehen und er konnte sich vage im Spiegel erkennen. Über ihm die Schritte, unaufhörlich. Genug!
Er verließ seine Behausung, stieg eine Treppe höher, hämmerte an die Tür. Sie öffnete sich. Ein verblüfftes Männergesicht sah ihn an. Ein Hieb, die Klinge versank im Oberbauch dieses Mannes. Der brach zusammen, zuckte kurz, kein Laut mehr. Endlich Ruhe!
Wieder in seiner Wohnung angekommen, konstatierte er sein welkes Aussehen. Eigentlich sollte ihn ein zufriedenes Gesicht im Spiegel anblicken. Blasser als vor Stunden im Büro, sah er krank aus. Dramatisch hatte sein Chef ihm eine Grippe prophezeit, man könne es ja schon sehen. Er stützte sich aufs Waschbecken, beugte sich nach vorn, dichter an den Spiegel, dieser zeigte sein Antlitz verschwommen.
Weit vorgelehnt konnte er seine Augenränder erkennen und schlug gegen seine matte Reflexion.
Morgen musste er zum Arzt, das stand fest. Er brauchte Schlaf und etwas für den Magen.
Zurück ins Schlafzimmer geschlurft, berührte er mit seiner Stirn die kühle Scheibe des Fensters. Keine Schritte über ihm, herrliche Ruhe.
Auf die Straße sehend, dachte er an sie. Der Druck im Bauch verging augenblicklich. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Er hob seinen Arm und stützte sich am Fensterrahmen ab. Sein Blick ging ins Leere, grübelnd sah er hinaus in die graue Stadt, Jagdtrieb spürend.
Würde sie ein weiteres Mal auftauchen? Sofort musste er seinen Plan umsetzen, seine neue Flamme in die Wohnung zu locken! Vielleicht mochte sie Fesselspiele? Wer würde das Luder vermissen? Hatte sie nicht behauptet, sie habe niemanden und freue sich über seine Gesellschaft? Was wäre, wenn er ein wenig mehr Druck machte und ihre Unentschlossenheit bräche? Genau, das war es, sie hier betten und nie fort lassen, sie müsste ihm, ihm allein gehören. Er würde dafür sorgen, dass sie glücklich wäre! Manche wollten eben zu ihrem Glück gezwungen werden. Bei einigen war es schief gegangen, aber nach denen hatte auch nie wieder einer gekräht. Kurzer Prozess!
Er hatte die Schnecke in diesem neuen Klub kennengelernt, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte. Ihr Blick verriet, dass sie ihn begehrte; es war mehr als deutlich, dass sie auf seine Initiative als Mann wartete! Es war eine Wohltat, ein wenig am Whisky zu nippen und in ihre geilen Augen zu sehen. Seine Gier war geweckt, aber die Bitch sollte noch zappeln. Er konnte sich auf sein gutes Aussehen, seine Muskeln verlassen.
Äußerlich charmant und aufmerksam, im Innern ein Tier, war er zum Zuschnappen bereit. Der Augenblick war wichtig. Keine Zeugen durfte es geben, da kannte er sich aus.
Als sie gemeinsam aufgebrochen waren, wollte er sie nach Hause begleiten. Es gäbe in dieser Stadt genug Irre, denen sie schutzlos ausgeliefert sei.
Sie hatte gelacht und verneint, hatte ihre Arme um ihn geschlungen, ihn an sich gezogen und geküsst. Er hatte ihren Körper gespürt, angeschmiegt an den seinen. Eng umarmt atmeten sie synchron. Selbstbeherrschung war alles, um geschmeidig zu bleiben. Ihren Duft atmete er tief ein, das Zuschlagen musste warten. Sie wollte es, war eine echte Schlampe, aber das Timing war schlecht.
Ihr weicher Mund, ihre Zunge ein wenig hervor gleitend, ihre Nase an seinem Ohr, das Knabbern an seinem Hals brachte seinen Puls zum Holpern. Er fühlte sich bei so viel Zuneigung bestätigt. Es wird leicht werden, sie beim nächsten Treffen zu überwältigen …
Seither hatten sie sich unregelmäßig gesehen. Oft, wenn er hier stand und aus dem Fenster sah, war sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgetaucht, hatte zu ihm heraufgeschaut. So ein einsames Ding!
Als könnte er sie magisch herbeirufen. Kam dieser gierige Hunger, erschien sie und lenkte ihn ab. Ihm ging es dann jedes Mal besser, sodass er sich fragte, ob sein kranker Zustand auf Einsamkeit beruhte. Fraß ihn die Gier nach Nähe von innen auf, nagte an ihm wie ein schwarzes Monster? Nein, er lebte selbstbestimmt!
Er wollte sich von der Scheibe abwenden, da erblickte er das Objekt seiner Begierde. Sie stand an der grauen Mauer. Ein ästhetischer Bruch zu den gekrakelten Tags, die so laut um Aufmerksamkeit brüllten. Diese Tags, von Narrenhänden geschmiert, die man abhacken sollte. Nun stand sie davor.
Sein Herz begann doppelt so schnell zu schlagen, flatterte wie eine kleine Taube in seiner Brust. Husten schleuderte zähen Schleim aus dem Rachen. Er hob die Hand zum Gruß, drehte sich um, zog Jeans und T-Shirt an und hastete auf die Straße.
Heute durfte sie nicht mehr weggehen und sie würde das gut finden!
Da stand sie, reine Schönheit. Das täuscht, dachte er. Sie lächelte gierige Geilheit. Er umarmte sie, küsste und fragte nach ihrem Namen. Das tat er sonst nie.
„Damamunga …“, flüsterte die Unersättliche.
Ihre Lippen glitten über seine Haut. Sie schob das T-Shirt hoch. Er spürte sie auf dem Bauch. Ihr Atem in seinem Nabel hinterließ Feuchte. Sie biss zart seine Brustwarze, kam mit dem Kopf unter dem Stoff hervor. Ihr Mund tastete kitzelnd über die Kehle, den Hals. Ihm liefen Kakerlaken im Gleichschritt über den Rücken bis zum Hinterteil, was ihn zittern ließ. Seine Gedanken überschlugen sich, ans Ziel kommen zu können, in sie zu dringen, sie zu besitzen. Ein Schrei hier auf der Straße würde alles zunichtemachen.
Ein heftiger Stich; sie hatte diesmal fester gezwickt, es war nicht unangenehm. Dieses kleine Miststück! Er war in einem Rausch, dessen Regie sie übernommen hatte. Er rang nach Luft, als sie in seinen Schritt griff. Der wohlige Schmatzer würde ihm sicher einen großen Bluterguss bereiten, einen Knutschfleck wie in Jugendtagen. Aber er wollte sie noch gewähren lassen, denn sie war jetzt sein. Diese unstillbare Gier! Hatte er jetzt laut gegrunzt?
Sie ließ den Kopf nach hinten fallen, hing in seinen Armen und lachte. Ob sie mit nach oben kommen wolle, da wäre es gemütlicher als hier an der Mauer, lockte er in säuselndem Ton. Da sah sie ihn starr an und verabschiedete sich. Heute solle er sich Schlafen legen und gut verdunkeln, morgen wäre auch ein Abend. Sie entwand sich blitzschnell seiner Umarmung, drehte sich um und schritt kichernd davon. Ihre Arme schwang sie, wie die Flügel einer Krähe, die sich in die Luft erheben will.
Er stand hechelnd vornübergebeugt und sah ihr nach. Seine Hände waren auf den Knien aufgestützt, wie nach einem Langlauf. Morgen würde er endlich das Ziel verwirklichen. Er fühlte sich hungrig wie ein Tiger, schwach nach erfolgloser Jagd und rieb die kühle Stelle unter dem Ohr. Seine Handfläche war rot von Blut. Zitternd tastete er nach seinem Hals und spürte zwei Löcher, Einstichen gleich.
Mit einem Gefühl der Ungläubigkeit in der Wohnung angekommen, blickte er in den Spiegel. Da war nichts, nur grauer Nebel, der in Schwaden waberte. Er schrie auf und boxte gegen das aschfahle Glas. Seine Sinne verließen ihn, er brach zusammen. Die ersten Sonnenstrahlen verdrängten das Dunkel im Bad und trafen zischend auf seinen Körper.
Einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul
Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand.
Und der Sattel liegt gleich nebenan,
fragt ihr mich, warum ich traurig bin,
schau ich nur zum Pferdehalfter hin …
(Bruce Low)
Durch meine Armeezeit war ich irgendwie ein anderer geworden. Hatte gelernt, mich durchzusetzen und vor allem an meinen eigenen Vorteil zu denken.
Das Malen, welches ich auf der Kunsthochschule im Vorbereitungssemester fürs Studium gelernt hatte, konnte ich in meiner Freizeit technisch zu neuen Qualitäten ausbauen. Material dazu wurde uns unter dem Aspekt der sozialistischen Menschwerdung und -Förderung gestellt. Andere „stählten“ ihre Körper beim Sport, ich war bei den Künstlern.
Die politischen Verstrickungen durch die Solidarność-Bewegung in Danzig brachte viel Aufregung. Aber alles wurde gut. Durch das viele Malen hatte ich Familie und Freunde mit kommerziellen Bildern versorgt. Von mir signierte Meisterwerke mit Blumenstillleben, Klostergemäuern, einsamen Bäumen in Frühlingsland und anderen Motive hingen überall in meinem sozialen Umfeld im rechten Licht.
Bei uns zu Hause prangte über der Couch der Kopf eines Fuchses.
Nein, nicht Reinecke mit buschigem Schwanz. Ein Pferd mit rotbrauner Zeichnung und weißer Blesse auf der Stirn. Sein Blick war von mir so treuherzig dargestellt worden, fast traurig, dass ein Betrachter spontan vermutete, man hätte dem Tier Hafer gestohlen.
Meine Mutter war begeistert. Und jeder, der das Wohnzimmer zum ersten Mal betrat, kam nicht umhin, dieses Werk zu betrachten und von ihr den Namen des Künstlers zu erfahren.
Was? Ehrlich?- Ja, von meinem Sohn!
In seiner Größe und Farbe passte es gut zu der bürgerlichen Gemütlichkeit unseres Wohnzimmers in diesen Jahren. Ich wohnte mit einer Schwester noch bei Mama.
Ich arbeitete einige Zeit nach meinem Militärdienst als Abteilungsleiter in einem Kaufhaus. Lacke, Farben, Tapeten.
Ja, bei den Farben war es irgendwie geblieben, jedoch eher handwerklich als künstlerisch.
Mir ging es gut. Ich verdiente für DDR-Verhältnisse viel Geld und konnte Zusätzliches einnehmen durch die kontrollierte Verteilung von Waren, die es nicht täglich zu kaufen gab. Zu meinen Kunden gehörten einflussreiche Professoren der Charité genauso, wie die Primaballerina der Staatsoper. Ich wurde mit Eintrittskarten kultureller Veranstaltungen, Ferienreisen, Sonderbehandlungen und vor allem viel Schmiergeld versorgt. Ich lebte wie die Made im Speck und hatte mich glücklich an jeder massenpolitischen Organisation vorbeigeschummelt. Die ökonomischen Ergebnisse meiner Abteilung im Kaufhaus stimmten, waren in Bezug auf Planzahlen wie Jahresumsatz und Inventurergebnis immer von den Besten im Haus. Man ließ mich in Ruhe.
Zu meinen Freunden zählten damals aber auch Handwerker aller Gewerke, auch ein KFZ-Schlosser, der sich rührend um meinen Trabant kümmerte. Der war bemüht, meinen Kugelporsche in Bahama-Beige am Laufen zu halten. Übrigens eine Farbe, die kein DDR-Bürger hätte abgleichen können, denn wer war je auf den Bahamas?
Nun kam es dazu, dass dieses Technikgenie mir einen neuen Kontakt vermittelte. Er machte mich mit dem Pferdeschlachter seines Heimatortes in der Mark bekannt, eigentlich mit der netten Gattin dieses Pferdemetzgers.
Sie erfreute sich in ihrem Ort sehr guter Beziehungen, jedoch fehlte es an Autolacken, Tapeten und weiteren Waren aus Fachabteilungen des Kaufhauses. Nicht zuletzt wünschte sie sich auch Vermittlung zu der in unserem Haus befindlichen „Exquisit“-Abteilung mit wahrhaft modischer Kleidung und luxuriösen Düften aus dem nichtsozialistischen Ausland.
Wir machten einen Termin, zu dem ich mit der freundlichen Frau, die sonst Tierleiberhälften mit der Axt spaltete, nun ganz Frau von Welt, durch die gewünschten Abteilungen des Kaufhauses wandelte, um ihr eine Palette der kostbarsten Bückwarenbeziehungen auszubreiten. Zugang zu Waren von „unter dem Ladentisch“! Sie erwarb von dem und jenem, kaufte dies und das und fühlte sich einen Augenblick ähnlich, wie Jahre später bei ihrem ersten Gang durch das KaDeWe.
Beladen wieder in meinem Büro im Erdgeschoss angekommen, tranken wir noch einen Kaffee und plauderten nett. Ich wartete auf mein wohlverdientes Trinkgeld. Die Fleischergattin zog mit ihren dicken Fingern geschickt ihr Lederportemonnaie aus der Handtasche und daraus einen gefüllten Umschlag. Den schob sie mir mit einem breiten Lächeln zu und zwinkerte. Sie freue sich auf ihren nächsten Berlinbesuch schon außerordentlich, merkte sie noch an. Ich solle nun noch unbedingt mit zu ihrem Wagen kommen.
Sie fuhr einen VW-Golf, der in einer kleinen Schwemme in diesen Jahren DDR-Privilegierte, Menschen mit Vermögen und Seilschaften aus dem kapitalistischen Ausland erreicht hatte. Sie hätte noch ein besonderes Geschenk für mich. Ich trug also einige Papiertüten, Plastiktüten gab es sehr selten, mit dem großen blauen „C“ für Centrum zu ihrem Auto, wo sie mich umarmte und mir ein Paket in Pergamentpapier überreichte. Ich sah sie mit gerunzelter Stirn an.
Sie hielt ihren behandschuhten Zeigefinger auf meinen Mund und sagte leise, es handele sich um eine Gourmandise, ich werde schon Gefallen daran finden. Einmal Pferd gegessen, wolle man es immer wieder.
Dann stieg sie in ihren Golf, winkte und brauste davon.
Ich ging mit dem unhandlichen Paket zurück ins Büro. Wir arbeiteten damals an den Samstagen bis 13 Uhr. Ich rief meine Mutter an, ihr mitzuteilen, dass ich für uns eine Köstlichkeit mitbringen würde. Das Filetstück eines Pferdes!
Das widerspenstige Paket, es war fast einen Meter lang, knickte ich vorsichtig in der Mitte und steckte es in meine Aktentasche. Irgendwie war es mir unheimlich, ein so großes Stück Fleisch zu transportieren.
An diesem Tag war ich mit der S-Bahn unterwegs. Mit der Tasche unter dem Arm kam ich mir vor wie ein Schuljunge, der etwas Verbotenes getan hatte. Unwohl sah ich mich um und mit Tunnelblick nahm ich in der Bahn Platz. Die Tasche legte ich auf meinem Schoß ab.
Wie ein Serienmörder fühlte ich mich, der die abgetrennten Gliedmaßen seiner Opfer in der Stadt verteilen wolle.
So saß ich mit Herzklopfen in der Bahn, die Tasche festhaltend, als ich den starren Blick einer älteren Dame wahrnahm. Sie konnte doch unmöglich wissen, dass ich hier ein Körperteil mit mir trug. Mir wurde siedend heiß. Ich quälte mich, stur in eine andere Richtung des Wageninneren zu sehen und spürte, dass etwas nicht stimmte. Die Dame erhob sich, blieb vor meinem Sitz stehen und meinte lautstark: „Junger Mann, ich weiß ja nicht, was Sie da in Ihrer Tasche transportieren, aber es tropft heraus.“ Dann stieg sie kopfschüttelnd aus. Hätte es nicht eine der alten Frauen sein können, deren Stimme dünn und gebrechlich war? Nein! Prima! Hatte sie doch dafür gesorgt, dass sich alle anwesenden Reisenden nun für mich interessierten.
Langsam sah ich von der Tasche zu der Blutlache auf den Boden, die sich neben meinem Fuß gebildet hatte. Beim Öffnen der Aktentasche blickte ich in Gesichter, deren Augen und Münder weit geöffnet waren. Ich versuchte das Paket, an dessen Knickstellen sich das Pergament rotbraun gefärbt hatte, in eine Lage zu bewegen.
Ich sah, dass mein linkes Hosenbein komplett rotbraun durchnässt war. Ich dachte an einen Streifschuss, an „Tatort“ und „Polizeiruf 110“. Gleich würde eine Stimme durch den Wagen rufen: „Hier spricht Edgar Wallace!“, während aus meiner Tasche Blut tropfte. Ein Mann murmelte etwas wie „Polizei“.
Wieso blutet das Stück Fleisch überhaupt, fragte ich mich. Als ich diese Geschichte später erzählte, erklärte man mir, weil das Fleisch so frisch war. Zum Glück musste ich aussteigen. Beim Erheben rutschte ich mit dem linken Hacken in der Pfütze aus, schmierte sie breiter, wodurch sie noch bedrohlicher wirkte. Nur nach Hause!
Meine Mutter bereitete aus dem Riesenfiletstück zwei Mahlzeiten. Das Wochenende sollte lukullisch abgesichert werden. Am Samstag wollten wir Pferdegoulasch essen aus den spitzen, etwas flacheren Enden des Filets und am Sonntag Steaks aus dem Mittelstück. Meine Schwester und ich waren schon sehr gespannt, war es doch die Premiere für uns. Pferdefleisch!
Duft von geschmortem Fleisch zog durch die Wohnung. Unser Dackel schlich um die Küche wie kurz vor der Jagd. Dann war der Zeitpunkt der Premiere gekommen.
Wir saßen um den Wohnzimmertisch und hatten das Produkt der Küchenleistung meiner Mutter vor uns stehen. Dunkles saftiges Goulasch auf Stampfkartoffeln dampfte vor sich hin und eine unheimliche Ruhe war an diesem Nachmittagstisch. Ich wundere mich heute noch, erinnerte mich die Atmosphäre doch an einen Leichenschmaus. Die Trauernden waren in Gedanken versunken.
Wir sahen uns alle drei abwechselnd mit verlegenem Grienen an, bis meine Mutter „Guten Appetit!“ wünschte. Nun begannen wir auf unseren Tellern zu stochern, verlegen Stücke hin und her zu schieben. Ich baute in dem Kartoffelbrei ein Kanalsystem für die dunkle Soße, das an antike Bewässerungssysteme erinnerte. Dann schnitt ich mein erstes Fleischstückchen an, obwohl es von mundgerechter Größe war, und kostete. Ein zartes Fleisch von auffallend delikatem Aroma hatte ich am Gaumen.
Ich spürte einen heftigen Druck in meinem Nacken, fühlte mich beobachtet. Kalter Schweiß machte sich auf meiner Stirn breit. Schauder liefen mir wie flüchtende Schaben über den Rücken.
Ich legte das Besteck aus der Hand, weil ich spürte, wie mich das Pferd in Öl von der Wand anschaute. Dabei dachte ich die ganze Zeit an Fury oder Black Beauty und sogar an unseren Hund. Beate spuckte ihre Mundportion vorsichtig auf ihren Kartoffelbrei und lachte hysterisch los. Mutter schob ihren Teller mit übertriebener Geste weit von sich, nachdem sie das Besteck klappernd auf den Tisch geworfen hatte. Wir lachten nun befreit im Chor.
Irgendwie hatte ich das Gefühl nicht loswerden können, unseren Rauhaarteckel zu verspeisen, der sich nun seinerseits an mehreren Tagen über köstlich zubereitetes Pferdefleisch schwanzwedelnd freute.
Meine Schwester summte leise, dabei zusehend, eine bekannte Melodie, die von einem Pony handelte, welches seinem Besitzer das Leben gerettet hatte.
Scharfes Kaninchen mit Tamarinde
Für Usman
Sie saß dort und erzählte von ihrem Leben, von ihren neu entdeckten Falten im Gesicht. Außerdem hatte sie diese Woche 200g zu viel auf der Waage. Sie hatte ein graues Haar aufgespürt. Zitternd griff sie wieder zu den Taschentüchern und schnaubte weinend in eines hinein. Sie sprach von Schönheitskorrekturen und Unterspritzungen und ich wurde müde, meine Gedanken schweiften in den Sommer 1994 ab. In die heiße Jahreszeit, in der ich Wajheeha kennen lernte. Das sportlichste Mädchen unserer Schule. Das verrückteste, das stärkste und das schönste. Sie wiederholte die Klassenstufe, war neu zu uns gekommen. Und sie saß neben mir.
***
Die Sonne brannte, es war ja erst Mai und doch so heiß. Ich saß im Schatten der Bäume neben dem Schulgarten und döste vor mich hin. Sogar die Katze unseres Nachbarn hinterließ beim Überqueren der Straße eine Staubspur. Kleine Wölkchen stiegen hinter ihr auf, dass ich zweimal schaute, nicht zu irren, was dort zu sehen war. Ein Lächelgesicht im Dauermodus, weil das Leben mich streichelte, sanft und warm. Ich hatte einen neuen Schutzgeist in der Klasse, Wajheeha, sie war meine beste Freundin.
Immer wenn ich frech zu den Älteren war oder Stress mit Umar, dem Chef der Schul-Gang hatte, sprang sie mir zur Seite. Das Mädchen hielt die kräftigen Jungen am Kragen, schüttelte sie und fragte, ob sie ihre Taekwondo-Kenntnisse kennen lernen wollten. Ihre Metallarmbänder klirrten dann am Arm wie eine drohende Klapper-Schlange und die Jungs hatten Respekt, ließen von mir ab und murmelten verächtliche Worte.
Jia, wie sie genannt wurde, rief in diesem Fall: „Komm Adil wir gehen Laufen! Vielleicht schaffst Du es ja mal, mich zu überholen… los!“
Und dann rannte sie schon los. Ihre Haare, lang und braun, flatterten im Wind. Meine Wangen glühten, wenn ich ihr nacheilte. Mir war nicht klar, was das ist, dieses Gefühl im Unterbauch, das diese eigentümliche Unruhe bewirkte.
Manchmal kletterten wir über Zäune, sprangen in den kleinen Bachlauf und bespritzten uns mit seinem kühlen Nass.
Wenn wir uns trafen, zeigte sie mir mitunter Griffe aus ihrem Kampfsport und schleuderte mich lachend auf den Rücken. Sie stemmte dann ihr Knie gegen mein Kinn. Vor mir ihre braunen Augen, hinter ihrem Körper malte die Sonne eine Korona. Sie wirkte überirdisch. Ihre Haare hingen herab, berührten und kitzelten mein Gesicht.
Wenn ich „Jia“ rief, ließ sie von mir ab und gab mich frei.
Ich hatte beobachtet, wie Jungen aus den höheren Klassenstufen um sie warben oder ihr Worte nachriefen, die nicht wohlerzogen klangen. Ich hatte gesehen, wie sie um sie herumschlichen. Manche brachten ihr Schokoriegel mit, andere fragten, ob sie gemeinsam Radrennen fahren könnten. Jia kicherte immer nur und sagte, das seien alles „Kaminae“ (Schurken) und ich wurde rot. Dann lachte sie, puffte mir in die Seite und strahlte Glück, das mich wärmte wie die Sonne hier auf der Straße.
Ihre Stimme war zu hören: „Adil, hallo Kleiner, was machst du hier?“
Ich war der Kleinste in der Klasse und unsere Lehrer behaupteten, so klein wie ich war, so frech wäre ich auch. Was mich ja auch immer wieder in brenzlige Situationen mit den Älteren gebracht hatte. Aber seit Jia in meinem Leben war, gab es keine Sorgen mehr.
„Ich sitze hier rum und beobachte die Hitze!“
„Die Hitze?“, „Das geht doch gar nicht!“
„Doch, komm her, setz´ dich zu mir und sieh auf die Straße. Guck dort wo Mira läuft“, so hieß die Nachbarskatze, „Sieh den Staub und sieh das Flirren der Luft, die Katze vibriert wie ein Phantom… kennst du Fata Morganas?“
„Ja, die gibt es doch aber nur in der Wüste! Adil, ich habe etwas viel Schöneres als diese Katze“.
„Ja? Was denn?“
„Ich habe Kaninchen… zwei, sie sind weich und zart.“
„Wollt ihr sie schlachten?“
„Nein, geschlachtet wird später, noch sind sie zu klein…“, sie kicherte, „Aber ich zeige sie dir gerne. Vorher musst Du mir nur von da drüben Tamarinde und Zitronen holen.“ „Was? Ich denke, die Tierchen werden noch nicht geschlachtet?“
„Ja, das stimmt, aber ich brauche vorher schon etwas Saures, ich erkläre Dir alles.“
Ich schaute über den Zaun in den Schulgarten. Es war streng verboten, dort einzubrechen. Und was, wenn sie mich erwischten?
„Mensch, Adil, sei kein Frosch, hol mir Tamarinde und Zitronen, ich stehe hier Schmiere und bewache Dich.“
Ich weiß heute nicht mehr genau, was in mir vorging, als ich wirklich über den Zaun kletterte. Mein Vater würde mich grün und blau schlagen, wenn das rauskäme. Aber schon unterwegs, waren alle Tadel und Drohungen vergessen.
Die Zitronen von den niedrigen kleinen Bäumchen waren leicht zu pflücken. Sie dufteten frisch und säuerlich. Ich steckte einige in die Hosentasche.
Doch der Tamarindebaum stand daneben groß und mächtig wie Fort Baltit, das wir einmal besucht hatten. Dreißig Meter wuchs er bestimmt in die Höhe. Sein Stamm hatte mindestens eine Manneslänge im Durchmesser. Ich spuckte in meine Hände. Das Herz klopfte. Dann sah ich zu Jia hinüber, die mit unschuldigem Blick auf und ab flanierte und mit den Händen wedelte, ich solle endlich klettern. Die Sneakers suchten in der kluftig rissigen Rinde Halt. Und ich startete den Aufstieg. Kurz dachte ich an meine neue Hose, die ich trug. Würde ich sie zerreißen, gäbe es ebenfalls Schläge.
Nach ein paar Zügen, wie in einer Boulderwand, hatte ich den ersten dicken Ast erreicht und hangelte mich an ihm entlang, um an die bauchigen Hülsenfrüchte zu gelangen. Alles lief wie geplant und ich pflückte einige dicke Schoten, um dann vorsichtig mit meiner Beute in den Taschen und klopfenden Herzens wieder hinab zu steigen.
Festen Boden unter den Füßen, lief ich geduckt zum Zaun, schwang mich hinüber und stand wieder neben Jia. Die kniff mir in die Wange und sagte: „Mein Zatka (sehr großer Liebling), mein Adil, mein Held!“, und lachte. Ihre dunklen Augen glühten. Wir liefen eilig davon.
In ihrem Elternhaus angekommen, setzten wir uns auf die Dachterrasse, niemand war bei ihr daheim. Dicht saßen wir nebeneinander, die Füße angewinkelt und keuchten vom Laufen. Ich legte wie eine Opfergabe Zitronen und Tamarinde-Schoten vor ihr auf den Boden und fragte: „Was machst Du damit jetzt und wo sind die Kaninchen?“
Sie nahm meine Hände und legte sie auf ihre zarten Brüste. „Knete sie und sage mir, ob Du sie fühlst, die Kaninchen!“ Ich erschrak und zog die Hände zurück. Wir sahen uns fest in die Augen. Sie zog energisch beide Hände wieder an ihre Brust und sagte: „Knete die kleinen Kaninchen heftiger, sie lieben es! Spürst Du sie?“
Ich lachte und in mir stieg eine vulkanige Hitze auf. Mein Gesicht glühte, als hätte ich auf jede Wange eine Backpfeife bekommen. Das Herz hatte die Absicht, mir aus dem Mund zu springen, den ich breit grinsend fest verschlossen hielt. Man konnte ja nie wissen.
Dann sagte ich: „Nein! Es sind kleine Ferkelchen.“ Und wir lachten beide laut. Jia erzählte mir, sie solle Saures essen, hatte ihre Großmutter gemeint. Nur so würde sie einen großen Busen bekommen. Noch seien es aber winzige Kaninchen. Außerdem sei ich dumm.
Daraufhin küsste sie meinen Mund. Mir war in dem Augenblick, als würde das Haus mit uns ins All katapultiert werden und das unbestimmte Gefühl im Unterbauch wurde ein sehr konkretes Empfinden. Ich sagte nichts, versuchte, mich einfach nicht zu bewegen. Eine Eruption hätte sich sonst ergossen. Dieser Tag war einer der schönsten meines Lebens.
***
Die Patientin jammerte immer noch. Ich schlug ihr endlich vor, ein Paar richtig gute Brustimplantate einzusetzen, ihr Busen würde dem einer 30-jährigen gleichen, so groß und fest wie zwei kleine Ferkel. Die Kundin lachte und sah glücklich aus. Der Spruch wirkt eben immer im Verkaufsgespräch. Während sie die beiden massigen Implantate knetete, wie ich damals die Kaninchen, strahlte sie mit leuchtenden Augen. Ich blickte das Foto auf meinem Schreibtisch an und lächelte ebenfalls, denn unsere Tochter Pinki sah aus, wie ihre Mutter in diesem Alter, die wilde schöne Jia …
Der Mantel
2001
Ein Gutshaus und ein Mantel. Wie war ich zu diesem Erbe gekommen?
Ich sitze im Regionalexpress, der seinen Weg durch die Uckermark schaukelt. Meine Schläfe wird gekühlt vom Nass der Scheibe, an der mein Kopf lehnt.
Ich sehe in die Heide. Birken und Weiden schießen an mir vorüber. Dazwischen immer wieder kleine Inseln Laubwäldchen mit Seen. Ich liebe diese Landschaft. So saftig, so fruchtbar.
Meine Mutter, Vera, Verchen genannt, erzählte, dass der Teich hinter dem Gutshaus, in einem plötzlichen Winter angeflogen gekommen wäre.
Schwäne hätten sich damals in Ostpreußen auf einem Tümpel niedergelassen. Und als ein unerwarteter Eissturm sie festfrieren ließ, begannen sie in ihrer Panik mit den Schwingen zu schlagen und zu flattern, bis sie sich samt Eisscholle in die Luft erhoben.
Hinter dem Gutshaus, zu dem ich jetzt unterwegs bin, ließen sie sich nieder. Meine Patentante lebte dort. Ich muss lächeln.
Wie schön war das mit Tante Mathilde und Mutter, wie hatte das Schicksal diese ungleichen Frauen auf einen gemeinsamen Weg geführt? Ähnlich wie die Schwäne den Teich nach Gut Sarnow gebracht hatten: Unerwartet.
Ich erinnere mich der Abende am Kamin. In der Halle des Gutshauses lauschte ich, wenn Mutter und Mathilde nebeneinandersaßen und aus ihrer Kindheit erzählten. Die Geschichten waren immer sehr lebendig, auch lustig oder anrührend. Sie schilderten schwierige Kälbergeburten, lachten über wachsame Gänse, erinnerten an treue Schäferhunde und jubilierten von abenteuerlichen Ausflügen in die Uckermark.
Aber die Geschichte vom Mantel ist die schönste, die konnte ich nicht oft genug hören.
1941-1945
Elfriede, meine Großmutter, hatte sich in drei ihrer dicksten Mäntel gehüllt, den alten Kinderwagen aus dem Keller geholt und mit dem, was sie für das Wichtigste hielt, bepackt. Ein Gebetsbuch, ein Fotoalbum, die Geburtsurkunden, eine Puppe für ihre Tochter Verchen und Wäsche, vor allem jedoch wertvollen Schmuck sowie Porzellan zum Tauschen.
Sie kalkulierte genau, was sie mitnahm. Auf der Karte hatte sie sich angesehen, wie weit es nach Skandinavien war. Sie würden mit der S-Bahn bis an den Stadtrand fahren. Die Reichsbahn mussten sie meiden, von Bernau aus würden sie laufen. Bis Rügen! Von Sassnitz aus wollte sie einen Kutter für sich und ihre Tochter nehmen.
Verchen hatte sie etwas von Kinderlandverschickung erzählt. Und so machte sie sich in ihr größtes Abenteuer auf. Sie musste mehr Nahrung für sich und das Kind organisieren.
Nach mühseligen Stunden und einer Nacht im Straßengraben, während der sie ihre Tochter unter ihre Mäntel gehüllt hatte, erreichten sie Gut Sarnow.
Elfriede schob Verchen vor den Wagen, drückte ihr die Puppe in den Arm, dann klopfte sie an das Tor. Das Klopfen hallte in ihren Ohren wider. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz werde aus dem Hals springen. Würde man sie wieder fortjagen?
Sie wollte sich schon zum Weitergehen abwenden, ein Hund bellte wütend, als sich das Tor einen Spalt öffnete. Es klirrte die Kette des Hofhundes, an der er riss, und Elfriede sah jetzt, wie er im Kreis sprang. Das Knarren des Tores erzeugte viele Erwartungen. Hinter dem Tor trat eine selbstbewusst wirkende Frau hervor.
Elfriede fragte stammelnd nach Unterkunft und Brot, bot zwei Sammeltassen dafür an. Die Frau, die sich da mit strenger Flechtfrisur aufbaute, stemmte die Hände in die Hüften. Ein buntes Tuch flatterte um ihre Schultern. Da schob sich ein Kind an ihr vorbei. Es schmiegte sich an Mutters Rock und sah gebannt Vera an.
So standen die vier und rührten sich nicht. Das Mädchen zupfte an der Kleidung ihrer Mutter, die sich hinabbeugte. Dann flüsterte die Kleine. Die Frau straffte ihren Körper: „Wie alt ist Ihre Tochter?“
„Verchen ist zehn, wird zehn im nächsten Monat. Sag `Guten Tag! `, Verchen!“ Elfriede schob sie ein wenig vorwärts.
„Zehn, soso, meine hier, die Mathilde, ist acht und ich weiß nicht, warum ich das jetzt tue, aber Sie dürfen eine Nacht bleiben. Mathilde bat mich darum. Kommen Sie! Aber ich warne Sie, nur weil mein Mann an der Front ist, bin ich nicht wehrlos.“
Sie liefen über den dunklen Hof, Frau von Sarnow machte den Hund los, „Hasso, komm!“, der folgte schwanzwedelnd.
Die Gruppe bewegte sich schweigend ins Haus.
Dort angekommen forderte die Gutsherrin: „Den Mantel Ihrer Kleinen will meine Tochter. Ich gebe Ihnen etwas anderes, vielleicht sogar wärmeres, da wird sich etwas finden lassen. Geben Sie ihn mir gleich.“
Mit spitzen Fingern nahm sie den an sich und trug ihn in einen Verschlag unter der Treppe. Verchen begann zu weinen.
Dann forderte die Gastgeberin Elfriede auf, ihr zu folgen.
Sie liefen durch eine große weiß-blau geflieste Küche, deren Zentrum eine riesige Kochmaschine beherrschte. Das Holz daneben roch frisch geschlagen. Kleine Harzbahnen liefen in den Wunden, wie Tränen über faltige Haut.
Hinter der Küche gab es eine Gesindestube. In der Mitte ein Eichentisch, auf dem eine Vase mit Strohblumen stand. An der Wand prangte ein Kreuz mit dornenbekröntem Heiland. Selten in dieser protestantischen Gegend. Später stellte sich heraus, dass dieses Kreuz Maria, der polnischen Magd, gehörte.
Die Hausherrin öffnete eine noch kleinere Tür, Elfriede musste den Kopf einziehen und sah in eine winzige Stube mit zwei Betten, frische karierte Wäsche war aufgezogen. Es duftete nach Lavendel, der getrocknet an der Wand hing. Es gab kein Fenster, dafür aber einen Eisenofen, einen Kleiderschrank und einen Stuhl.
„Hier können Sie eine Nacht bleiben, ich bringe Ihnen gleich etwas Milch und Brot. Und noch eins, wir schieben vor diese Tür den Besenschrank, das hat sich bewährt.“
Elfriede nickte mehrmals. Mathilde hielt die Hand ihrer Mutter und hatte keinen Blick von Vera gelassen.
Am nächsten Morgen wurde Elfriede durch Rufe wach und Schritte waren in der Küche zu hören. Sie sprang aus dem Bett, zog sich eine Strickjacke über und öffnete die Tür. Da stand sie vor der Schrankrückwand. Sie hielt sich mit weit geöffneten Augen den Mund zu. Laute Stimmen auf der anderen Seite der Bretter. Mit einer Hand machte sie hinter sich warnende Zeichen. Da war irgendwas im Gange.
Als wieder Ruhe einkehrte sackte sie wegen weicher Knie zusammen, froh, dass sie so schnell reagiert hatte und Verchen kein Mucks von sich gegeben hatte.
Wie sich herausstellte, hatten die Gutsfrau und ihre Magd der SS Lebensmittel für die Winterhilfe übergeben müssen. Nachdem die Soldaten mit Kartoffeln, Eier und Speck beladen waren, fuhren sie davon.
Elfriede bedankte sich für das Verstecken und sah verlegen auf die Hausherrin.
Die fragte aufgeregt: „Sie wissen aber schon, dass wir uns im Krieg befinden? Meine Nerven machen das nicht mehr mit!“ Dann setzte sie sich auf einen Schemel und weinte. Maria winkte ab. Elfriede trat näher und legte ihre Arme um die schluchzende Frau von Sarnow. Die lehnte ihren Kopf an den Bauch der Stehenden.
Die Mädchen Mathilde und Vera wurden Freundinnen. Ihre Mütter auch. Die Kinder spielten auf dem Hof, gingen mit Hasso spazieren und trieben sich durch Wälder und Felder. Elfriede half auf dem Hof und war froh über jeden weiteren Tag, den sie bleiben durften.
An einem Frühlingstag 1942 kam Vera schreiend auf den Hof gerannt. Sie war kaum zu beruhigen. Bis sie endlich klar vernehmlich artikulierte, vergingen bange Minuten. Man hatte auf der Landstraße Mathilde auf einen Laster gehoben und mitgenommen. Wer? Uniformierte! Wo? Kurz vor Carinhall. Wieso? Keine Ahnung! Wo war Verchen in dem Moment? Hatte sich im Unterholz versteckt.
Beide Frauen beratschlagten hektisch, was zu tun sei. Das Kind musste aus den Klauen der Machthaber befreit werden.
Elfriede riet, Heidelinde solle direkt bei Göring oder dessen Gutsverwalter in Carinhall fragen, wo ihre Tochter sei. Die Gutsherrin pochte auf ihren Adelstitel und stimmte zu, ihr Mann war schließlich Offizier der Luftwaffe.
Sie besprachen Details, wie sich Elfriede und Verchen während der Abwesenheit der Gutsbesitzerin zu verhalten hätten. Heidelinde von Sarnow schrieb in ordentlichen Druckbuchstaben eine Personenbeschreibung für die Fahndung auf. Dunkle Zöpfe, blaue Augen. Welche Schuhe trug sie, welche Strümpfe? Die Gesichter der Frauen erstarrten in marmornem Grau, als Verchen unter Tränen verriet, dass Mathilde heimlich aus dem Verschlag den Mantel geholt hatte.
Drei Tage später war die Freude groß, als Heidelinde und ihre Tochter auf dem Hof mit einem Motorrad mit Beiwagen ankamen. Nachdem der Motorradfahrer den Hof verlassen hatte, fielen sich die Kinder weinend und lachend in die Arme. Man hatte Mathilde in Ravensbrück ausfindig gemacht.
Bis Kriegsende blieben Elfriede und Verchen bei Heidelinde und Mathilde und Maria, inzwischen unzertrennlich. Oberst von Sarnow kam nicht aus dem Krieg zurück.
Elfriede und Verchen kehrten in das zerbombte Berlin heim.
2001
An all das denke ich, inzwischen auf dem Gut angekommen. Die Jahre während der DDR-Zeit hatte das Gut überstanden, war nie in staatliche Hände gefallen. Ein Glücksfall. Mathilde wurde meine Patentante, konnte leider nie selbst Kinder empfangen. Viele Ferientage habe ich hier verbracht. Mathildes Mutter hatte ich nicht kennen gelernt. Aber Magd Maria hatte ich geliebt, sie hatte hier bis zu ihrem Tod gelebt und gearbeitet.
Die Tochter, die in meinem Bauch temperamentvoll boxt, wird Mathilde heißen.
Ich gehe durch die verwaiste Küche auf das kleine Zimmer hinter dem Besenschrank zu. Ich öffne die Tür mit zitternder Hand. Der Lichtstrahl, der sich hineindrängelt, erfasst sofort den Mantel, der auf einem Kinderbügel am Schrank hängt.
Der Mantel, der zu diesem Gut gehört, zu der Geschichte und zu den Frauen darin. Blauer Bouclé-Stoff, brauner Kaninchenfellkragen und …
der goldene sechszackige Stern, den Tante Mathilde bei ihrer ersten Begegnung mit meiner Mutter so wunderschön fand.
Die Beschwörung
Eine kleine Siedlung am Rande der Stadt könnte man beschreiben mit „Es war einmal…“.
Dort lebte ein mürrischer einsamer Rentner, namens Kurt. Der bestellte seinen Garten, mit Gemüse und Salat, mit Blumen und Kartoffeln. Zu den Nachbarn hatte er aber ein schlechtes Verhältnis, sah finster drein und wetterte vor sich hin. Seine Frau war schon vor vielen Jahren gestorben und seitdem hatte man ihn nie wieder lachen gesehen.
An seinem Grundstück vorbei, führte ein kleiner Weg direkt in den Wald. Er konnte genau beobachten, wer den Weg in den Wald benutzte. Er kannte sie alle, zumindest vom Sehen. Da kamen spielende Kinder oder Pilzsammler und täglich kamen Hundehalter vorbei. Er selbst stapfte auch dort entlang, wenn er mit seinem Vierbeiner Runden ging.
Nachts beobachtete er Tiere, die den Weg in entgegengesetzte Richtung benutzten und neugierig in die Zivilisation nach Essbarem spähten. Er lag wieder einmal schlaflos in seinem Bett und starrte ins Dunkel der Nacht, da sah er zwei Gestalten den Weg entlang gehen. Diese Beiden hatten aber etwas an sich, was hier nicht her passen wollte. Sie wirkten nicht wie Gärtner oder Wilderer.
Er setzte sich auf und sah genauer auf den Weg. Er hörte eine Männerstimme, die sagte: „Jetzt geh halt nicht so laut, du weckst die ganze Siedlung auf. Wenn die uns sehen, sind wir aufgeschmissen.“
Der Mond stand voll und hell am Himmel und beleuchtete alles deutlich. Die zweite Gestalt war eine Frau und antwortete: „Ja, ich mach´ ja schon ganz leise, was willst du denn? Wo müssen wir denn hin?“
Kurt wurde unruhig. Oft hatte er schon Gärtner gesehen, die ihren Abfall in den Wald trugen, wenn alle schliefen. Aber diesmal schien es sich um etwas noch Verboteneres zu handeln. Mechanisch stand er auf, zog sich eine Trainingshose an, seinen Wollpullover und steckte sein Handy in die Tasche. Dem wedelnden Hund neben der Tür bedeutete er Ruhe zu geben und schob ihn ins Wohnzimmer. Kurt war bereit, sich die Strolche anzusehen, und beim geringsten Verdacht, die Polizei zu rufen.
Er schritt zügig in den Wald. Das fahle Licht des Vollmondes erleuchtete die Szenerie. Er schien so hell heute, dass man den Eindruck hatte, es würde dämmern. Die Wolken waren sogar als graue Masse zu erkennen, wie sie durch den Wind schnell am stahlgrauen Himmel entlang geschoben wurden. In der Ferne war ein Käuzchen zu hören und von Süden wehte Partymusik herüber. Kurt keuchte und lief schneller, bis er die beiden Verdächtigen wieder erspähte.
Er hoffte natürlich, sie würden ihn nicht entdecken. Sein Atem ging stoßweise und er fühlte sich sehr lebendig. Nach kurzer Strecke erreichte er die Gebüschgruppe vor einer Waldlichtung und wurde langsamer. Nichts sollte ihn verraten. Er hörte wieder deutlicher die Stimmen der Beiden. Durch die Büsche konnte er nun sehen, wie das Paar auf der Lichtung stand und sich an etwas zu schaffen machte. Während der Mann mit den Händen über einem sich langsam entwickelnden Lagerfeuer murmelnd winkte, warf die junge Frau ständig etwas in die höher steigenden Flammen, die dann aufblitzten und funkelten.
Plötzlich gab es einen Knall und Lichtkreise und Ellipsen aus Funken stieben und wirbelten um das Feuer herum. Diese an Atommodelle erinnernden Bahnen aus Blitzen und hellem Schein wurden größer und wirbelten entsprechend schneller. Kurt duckte sich tiefer, um bei dem immer heller werdenden Schein nicht gesehen zu werden.
Der Mann, den Kurt jetzt als grauhaarig erkannte, murmelte lauter und eindringlicher.
Das Mädchen, älter als siebzehn war sie nicht, warf zügiger verschiedene Materialen in die Flammen. Dann gab es einen weiteren ohrenbetäubenden Knall. Das muss man doch im Ort gehört haben? Es folgte eine mächtige Druckwelle. Gräser, Büsche und junge Bäume bogen sich und Kurt warf sie um. Wie in Zeitlupe war diese Welle auf ihn zugerast. Er lag im nassen Gras und dachte nur noch an Flucht. Die Druckwelle hatte einen Nachtfalter auf seine Nase geblasen, der da hilflos flatterte und sich festkrallte. Er hatte keine Angst vor Insekten. Aber ehe diese Motte sich ganz heimisch fühlen würde, griff er an seine Nase und dachte daran, möglichst unerkannt das Weite zu suchen. Er bekam den Falter, dessen Flattern zu hören war, zu fassen und zog ihn energisch aus seinem Gesicht.
Nun sah er das an, dass da in seiner Hand mit den Flügeln schlug … es war eine elfengleiche Winzigkeit. Sie sah aus wie ein Mädchen, hatte spinnenfeines silbriges Haar, große schwarze Augen in einem feinnasigen Gesicht, eine schlanke Figur von der Größe eines Däumelinchens wie bei Andersen. Entzückt sah er das kleine hübsche Fräulein in seinem weißen Kleidchen an. Kurts Mund stand weit offen, bis das Püppchen mit piepsiger Stimme sagte: „Au, quetsch` mich doch nicht so, du ungehobelter Zweibeiner!“ Kurt lies sie fallen. Sie fiel direkt in seinen Schoss, stand auf und schüttelte sich, klopfte ihr Kleid ab, als wäre es mit Mehl bestäubt und sah hoch.
„Also, was soll ich für dich tun, du Grobian?“ Ungläubig sah er auf das liebliche Wesen vor ihm.
„Wie? …“ und erinnerte sich an das unheimliche Paar, worauf er zischelte „Still!“ und den Zeigefinger auf seinen Mund legte. Er sah auf die Lichtung, wo sie laut und heftig miteinander diskutierten und keine Notiz von ihm genommen hatten. Er legte sich wieder flach auf den Boden, vor seinem Gesicht stand nun das kleine Wesen und zog einen Schmollmund, verschränkte ihre Arme.
Die Lichtung war wieder in Mondschein gehüllt. Die Flammen waren erloschen. Er hörte so etwas wie „…Mondkinder… hast du denn keines gesehen?“ Sie antwortete mürrisch: „Nein, wie sollte ich denn? Ich war fast eine Minute lang blind vom Blitz“
Er: „Dann lass uns schnell abhauen, vielleicht beim nächsten Vollmond.“ Sie hob die Arme: „Nein, ohne mich, ich mach` bei dem Blödsinn nicht mehr mit, du Spinner!“ Kurt beobachtete, wie die Beiden eilig davon gingen. Sie diskutierten noch immer. Er setzte sich auf und überlegte kurz, kniff sich in die Ohren und sah sich um, dann hob er den Winzling in seinen Schoss, als erinnerte er sich an eine Fata Morgana. Da saß sie nun, von einem fluoreszierenden Licht umgeben, das kleine Mädchen, das nicht höher als 15cm war. Er lächelte und sagte: „Ich träume…“ darauf entgegnete die kleine Silbergestalt: „Nein du träumst nicht, du hast mich doch gerufen! Wo hattest du eigentlich die Formel her?“
Er sah sie an und verstand gar nichts. Was sollte er tun? Er erwiderte zaghaft: „Wer oder was bist du denn, ich will nach Hause…“
„Ich muss mitkommen und bei dir bleiben, bis an Dein Ende, ich bin ein Mondkind und wir machen das gerne.“
Er kicherte und wusste, das würde ihm niemand glauben. Kurt stand auf und ging seinem Zuhause entgegen, die kleine Lichtgestalt umschwirrte dabei seine Schultern.
In seinem Zuhause angekommen machte er aus einer Suppenschüssel ein weiches gemütliches Bett für das Mondkind. Das kleine Wesen durchschwirrte die ganze Hütte, knuddelte den Hund hinter den Ohren und meinte: „Hier werde ich mich sehr wohlfühlen. Das ahne ich.“ Lächelnd senkte sie sich in das kleine Porzellanbett.
Von diesem Tag an, hatte der Alte immer ein fröhliches Wesen, sah gesund und munter aus, war aufgeschlossen, wie verwandelt. Man munkelte im Ort, er sei irgendwie zu Geld gekommen. Niemand wusste aber, dass er mit einem Mondkind zusammenlebte, das ihm jeden Wunsch erfüllte. Das blieb Beider Geheimnis. Und wenn er nicht gestorben ist, na Sie wissen schon …
Würzburg 1952
Er sah auf seine Hände, rissig waren sie und nicht mehr zu gebrauchen.
Die Straßenbahn ruckelt.
Er kippte gegen den jungen Mann und spürte, wie dessen Muskeln ihn abfederten. So stark war er auch einmal.
„Die Fahrkarten!“
Er erschrak, zuckte zusammen, diese strenge Stimme! Das war doch albern …
Zitternd kramte er in seiner Manteltasche, drei Finger steif an seiner rechten Hand. Unnütz und krumm, nie wieder richtig zusammengewachsen, zu oft gebrochen. Den Fahrschein hielt er fest.
„Sie müssen mir die schon geben, die Karte, oder meinen Sie, ich kann von hier aus Hellsehen?“, hörte er von weiter vorn.
Er schrak erneut zusammen, das ist er! Er sah hoch. Blitze zuckten durch seinen Kopf, sah in dessen Gesicht, das ihm vertraut war, wie das Gesicht eines Verwandten.
Verwandt mit dem Tod.
„Wenn die ungültig ist, müssen sie aussteigen und Strafe zahlen, Ausweis!“ herrschte der Kontrolleur eine Dame an.
Sein Puls stieg. In seinem Kopf dröhnte es. Bilder beschwörte die Stimme herauf.
*
Ein Schuss zischt an seinem Kopf vorbei. Der Kamerad neben ihm bricht zusammen. Ihm bleibt die Luft weg, keinen Atemzug macht er mehr. Nur nicht auffallen.
Es klatscht erneut, drei Reihen vor ihm bricht Erwin zusammen. Lachen! Monströses kaltes Lachen. Ungerührtheit! Da! Krach!
Wieder einer der zusammenbricht.
Der Schnee liegt schon drei Zentimeter auf der Schulter, niemand bewegt sich. Er weint. Lautlos laufen die Tränen.
Ein Stöhnen. Horst ist zusammengesackt. Hunde bellen. Bellen, als würden sie Luft zerfleischen.
Ruhe! Die Stimmen sind unklar, das Gesprochene nicht zu verstehen, das vom Turm heruntersäuselt. Wegtreten! Überlebt! Dieses Mal.
*
„Ey! Die Fahrkarte, Aufwachen!“
Der Kontrolleur schrie drei Reihen vor ihm einen Jungen an.
Angezeigt hatte er ihn nach Kriegsende, überlebte, als Einziger. Ausgelacht hatte der ihn. Nichts zu beweisen.
*
Er sieht ihn vor dem Krematorium. Rauch ohne Pause steigt dort auf. Sie heizen die Unterkünfte der Besatzung damit.
Nein! Er lässt den Hund los. Japsend mit gefletschten Zähnen stürzt der sich auf ihn. Er fällt auf den Rücken, ein Stein knallt ihm in die Nieren. Mit beiden Händen hält er den Hals des schnappenden Tieres. Der Hundespeichel geifert ihm ins Gesicht. Er darf jetzt nicht das Tier loslassen, drückt den Schlund fest zu. Das Tier bäumt sich auf, beginnt zu jaulen. Schinder-Müller schreit: „Loslassen! Lass das Tier los oder ich schlage dich tot!“
Ein Schuss in die Luft. Er lässt los. Die Bestie fällt über ihm leblos zusammen. Schinder-Müller rennt, schreit und prügelt mit dem Gewehrkolben auf ihn ein. Schmerzen wie Funken durchzucken ihn. Wie oft? Kann er nicht zählen. Der Stiefel quetscht seinen Unterarm. Der Gewehrkolben zertrümmert die Hand. Seine Sinne schwinden.
Dass er nicht tot ist, verdankt er barmherzigen Häftlingen, die ihn in die Baracke gezerrt hatten, fürsorglich aufpäppeln.
*
Die Hand war nie wieder geworden. Wie eine verdorrte Wurzel.
„Auch sie, muss ich jeden einzeln auffordern, die Fahrkarte!“, donnerte Schinder-Müller.
Das Gericht hatte befunden, dass Schinder-Müller nur seinen Dienst getan hatte, nicht befehlsführendes Organ war, nicht selbstständig Gräueltaten ausführte, wie vorgeworfen. Aussage gegen Aussage. Keine Zeugen mehr aus der Zeit.
Kein Wunder, waren alle hin, gefallen, erschossen auf dem letzten Marsch.
*
Eiseskälte, Schneesturm. Man kommt nicht weiter. Die Russen schon zu hören. Schreien Befehle! Hinknien! Vor die Senke! Sie knien davor, sehen hinunter. Einige beten. Andere jammern. Noch welche beißen hörbar die Zähne aufeinander. Schüsse, immer wieder Schüsse. Er schießt!
Fallen. Ein langer Fall, tief und weich. Er kommt zu sich. Krabbelt aus einem Berg Leiber, gefrorene Leiber. Auf allen vieren bis in dieses Dorf.
*
Nun schindet er Fahrgäste, das Schwein!
„Hallo, Sie!“, ein Schubs, er zuckte zusammen, „Sie, Fahrkarte her! Kenn´ ich Sie nicht?“
Er sah hoch, stand langsam auf, kramte in den Taschen. Die Bahn schaukelte. Er lehnte sich gegen Schinder-Müller. Der schubste ihn zurück. Kurve. Schienen quietschten. Die Tür aufgerissen, nur ein Stoß! Wo nahm er die Kraft her? Ein Auto bremste kreischend. Ein Holpern. Die Bahn bremste auch.
Joachim Rosenbaum stieg aus und humpelte lächelnd nach Hause.
Die EMO-Quote
„Weeste, wenn ick mir überleje, dat wir hier die meiste Zeit mit´nander verbring´n und wir kenn´ uns jar nich, is schon traurich, wa Lutschi?“
Evi Sauer saß auf der Arbeitsplatte der Kaffeeküche und sah zum Tresen hinüber, an dem Luigi lehnte.
„Was meinst du denn, Evi? Wir kennen uns doch gut, ich kenne sogar deinen Stecher“, blinzelte Luigi seiner Kollegin zu.
„Na weeste, der Alte hat anjeordnit, dat wa der Harfenstein ´ne Überraschung ausricht´n soll´n. Hier im Büro. Und da fiel ma uff, dat man die wirklich nich kennt, wa?“
„Ach, die Süße, stimmt, aber das liegt doch nicht an uns. Ich habe sie neulich gefragt, ob sie mit zur After-Work-Lounge gehen will, aber da hat sie nur verlegen abgewinkt.“
Er machte eine ablehnende Armbewegung. „Das liegt auch an ihrer Arbeitszeit. Guck mal, wenn die kommt, sind wir schon drei Stunden hier, dann sitzt sie da vorne ihre vier Stunden, hängt meistens am Hörer, und geht, bevor wir Feierabend haben. Da braucht man sich nicht zu wundern. Aber ein echtes Goldstück ist die Kleine. Ich mag die ja.“
„Icke doch ooch, Lutschi. Und nu die Überraschungsparty. Der Alte will der scheinbar ooch nur jutit, denn der hat ma jesacht, der will alle an Bord, wa. Also keener soll ooch nur een Mucks tun, na ick muss jleich weita, Post austrajen in de Expo, Süßer, also, sijuleter, Lutschi!“
Luigi sah verwundert zu, wie die freche Evi mit ihrem großen Postwagen weiterstakste,
„Mann, hat die ´ne Kiste!“, dachte er noch, dann war er schon wieder gedanklich dem Schreibtisch verbunden. Marktanalysen.
Das Telefon klingelte: „Mensch Luigi, hast du schon gehört? Wir sollen eine Überraschungsparty für die Harfenstein organisieren. Da freue ich mich aber. Das hat die auch verdient. Findest du nicht auch?“
Luigi musste grinsen. „Ja Martina, das finde ich auch, sprach gerade mit unserer Post-Evi, die sieht das genauso. Aber warum ist denn der Chef so interessiert daran? Hast du ´ne Ahnung?“
„Nein, nicht die Bohne. Aber der gibt sich doch neuerdings so besonders sozial, seit er zu dieser Schulung war. Warte mal, ich sehe mal in seinen Timer.“
Luigi hörte es am anderen Ende blättern und rascheln.
„Emo-Quotient – emotional intelligent führen. Danach war der doch wie ausgewechselt.“
„Aber was feiert die denn, die Harfenstein? Ihren Fünfzigsten?“, gurgelte Luigi.
„Nein, die hat doch geheiratet. Weißt du das auch nicht?“
„Ach so?“
„Ja, frisch verheiratet, hat eine Dienstmail ans Personalbüro und hier an den Chef geschickt, dass sie ab sofort unter dem Namen Wildenau zu laufen hat. Sind ja aus allen Wolken gefallen. Da hätte ja nun wenigstens einer hingehen müssen, mit ´nem Strauß oder so, ist doch peinlich.“
Martina machte eine Denkpause, Luigi sagte vorsichtshalber: „Ja?“
„Nun sitzt sie aber auch ein bisschen ab vom Schuss“, setzte Martina fort, „hat ja auch jede Betriebsfeier abgesagt. Na jedenfalls, die Kundschaft hat sie oft lobend erwähnt, was sie für ein professionelles Aushängeschild für die Firma sei, so kompetent und so weiter, na, hat das arme Würstchen dann auch verdient. Wir treffen uns nachher alle im Meetingraum Zwei, ohne Frau Harfenstein, äh Wildenau, und besprechen, wer von uns was machen wird. Sekt und Blumen habe ich schon bestellt. Ich muss weiter anrufen und Bescheid sagen, bis nachher, Luigi.“ Es knackte in der Leitung.
Luigi legte auf und musste grinsen, die Augen leuchteten. Er wusste, was er gerne auf der Überraschungsparty vortragen würde.
So gingen an diesem Vormittag ein Telefonieren und Zuraunen durch den kleinen Betrieb. Wie ein Schwel-Brand erreichte es mehr und mehr Brandbeschleuniger, um möglichst in einer Party zu entflammen. Die Kollegen taten geheimnisvoll und jeder dachte darüber nach, wie man die frisch Vermählte überraschen könnte.
Um dreizehn Uhr traf man sich im Meetingraum Zwei. Die Kollegen schnatterten aufgeregt durcheinander, bis Herr zum Bransen, Abteilungsleiter, den Raum betrat. Alle blickten gespannt in seine Richtung, wie Kinder, die ein neues Wort lernen würden. Der Chef räusperte sich und setzte an, wie wichtig es sei, dass man untereinander Kontakt halte, hinter die Kulissen schaue, über den Tellerrand hinweg, sein Herz öffne und offen miteinander umgehe. Er sprach davon, dass Frau Harfenstein ein qualifiziertes, aber leider nicht sehr bekanntes Mitglied dieses Teams sei, das Aushängeschild der Firma am Kundentelefon, und ab sofort Frau Wildenau hieße, weil ein Herz sich zum anderen gesellt habe und so weiter …
Man wunderte sich über diesen Vorgesetzten, der sich nicht immer so volksnah gegeben hatte. Martina blinzelte wissend Luigi zu, der wiederum mit Flunsch bedeutungsschwanger nickte. Es sollten Vorschläge für die Überraschungsparty, die der Boss zu fünfzehn Uhr angesetzt hatte, gemacht werden. Herr zum Bransen sah in die Runde und fragte: „Wer kennt denn Frau Wildenau oder ihren Mann etwas besser als ich?“
Betretenes Schweigen folgte. Der Chef räusperte sich in seiner Art, die Ungeduld andeutete, und forderte Initiativen ein. Hastig sah er dabei unmissverständlich auf seine Armbanduhr.
Frau von Heidenrock aus dem Marketing schlug einen Wellnesgutschein vor und schwärmte von Klangschalenmassage, Tridosha und Kräuterstempelanwendungen. Als sie Luft holte und das Wort Ayurveda verlauten ließ, unterbrach Herr zum Bransen sie. Er meinte, das sei nicht für die Party um drei geeignet.
Martina, seine Assistentin, meldete sich: „Ich habe ein sehr schönes Hochzeitsgedicht gegoogelt und ausgedruckt. Das würde ich verlesen. Kennt denn jemand den Vornamen von Herrn Wildenau? Dann könnte ich es persönlicher gestalten.“
Niemand äußerte sich.
Luigi, schon ganz unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschend, sprang auf, hob seine Hände in Kopfhöhe. Er knickte im Becken leicht ein und meinte: „Ich könnte ‚My heart will go on‘ singen“. Zustimmung fordernd sah er in die Runde.
Hardy aus der Expo stand auf: „Also ick wees nich, muss denn dieset Transvestitische oder Transsexuelle, oder wie man dit Tuntije nennt, sein? Vielleicht kann dit Frau Harfenst, äh Wildesau, jar nich leiden?“. Er stieß lachend seinen Nachbarn an.
„Ach du!“, sagte Luigi und winkte mit den erhobenen Händen ab, „du kennst dich ja aus, ich ziehe mich doch nicht um, nur Singen!“. Er strahlte in die Runde.
Post-Evi wusste Rat: „Dit is doch super, wenn Lutschi dit Lied von der Titanic-Ollen singt. Die is doch ooch ´n Weltstar diese Las Veganerin, wa?“
Martina ging sofort dazwischen: „Mensch Evi, die ist aus Kanada und heißt Celine Dion.“ „Ach, als icke mit meen Macker in Las Vegas war, war die ooch da, ick dachte Las Veganerin …“, alle lachten.
Herr zum Bransen forderte Luigi auf, „Ich denke, Sie singen den Song, wenn das Gedicht vorgetragen wurde.“
Er sah danach zu Martina. „Dann übergeben wir den Blumenstrauß und die Pralinen, gratulieren, stoßen mit dem Sekt an und gehen wieder an die Arbeit. Das war´s, alles wieder an die Plätze. Zehn vor drei hier einfinden, ich komme mit Frau Harfen … nein … Wildenau nach.“
Die Zeit bis dahin wollte nicht vergehen, Luigi summte nun ständig vor sich hin, eine Atmosphäre von Titanic schwappte durch die Büroräume.
Als es endlich kurz vor drei war, setzten sich Züge von Angestellten wie Demonstranten in Bewegung. Der Ameisenbau auf Wanderschaft in neues Territorium. Man versammelte sich wieder im „Meeting Zwei“. Einige rückten ihre Blazer zurecht, andere zuppelten an ihren Hosen. Eine feierliche Stimmung kam auf. Gerührt, mit Tränen in den Augen, sagte Frau von Heiden: „Ach, da wird sich die Kollegin freuen, so ein Glück aber auch! Heutzutage jemanden an seiner Seite zu haben, in dieser kalten Welt, ist ja auch gar nicht leicht.“
Sie schluchzte jetzt. Ein Kollege aus der Werbung nahm sie brüderlich in den Arm.
Die Tür ging auf. Der Werbeexperte startete weichspülende „The Carpenters“. Herr zum Bransen kam mit Frau Wildenau, die Kollegen riefen:
„Überraschung!“
Frau Wildenau zuckte zusammen und hob die Hände über ihren Kopf und fragte: „Was ist denn hier los?“
Zu hören war nun:
„ … I´m on the top of the world lookin down on creation
And the only explanation I can find
Is the love that I´ve found ever since you´ve been around
Your loves put me at the top of the world … “
Herr zum Bransen machte ein Zeichen, die Musik zu stoppen und schob Frau Wildenau sanft auf einen bereitgestellten Polsterstuhl.
Martina trat vor:
„Glück ist wie ein frischer Morgen,
Wenn es strahlt wie Blumenpracht,
Wenn vorbei sind alle Sorgen,
Wenn man mit dem Partner lacht.“
Sie schluckte merklich und las weiter:
„Glück ist Wasser, wenn du Durst hast,
Wenn die Sonne euch nun scheint,
Wenn du Kaffee jetzt für zwei machst.“
Sie lachte kurz.
Frau Wildenau liefen die Tränen. Sie holte Luft, wollte etwas sagen. Herr zum Bransen drückte seine Hand fester auf ihre Schulter.
„Wenn du nie mehr einsam weinst.
Glück ist auch der Kuss der Liebe,
Wenn du glücklich dich gebunden,
Wenn es immer nur so bliebe,
Wenn du deinen Schatz gefunden!“
Mit feuchten Augen sah sie in die Runde und tosender Applaus ertönte.
In diesem Augenblick sprang Luigi in die Mitte, breitete seine Arme aus und sang, als wäre er schon immer Celines Stimmdouble gewesen:
„Every night in my dreams
I see you, I feel you, …
Near, far, wherever you are
I believe that the heart does go on …
And you´re here in my heart
And my heart will go on and on … “
Man klatschte wieder.
Frau Wildenau, die Hände vorm Gesicht, saß gebeugt auf dem Stuhl und weinte. Neben ihrem Gesicht duftete der Blumenstrauß. Der Pralinenkasten bettelte um Aufmerksamkeit. Martina hielt beides griffbereit.
Alle sahen gespannt diese Szene, kein Wort. Endlich blickte die Bejubelte hoch und rief:
„Ihr habt doch keine Ahnung, was ich durchgemacht habe“, sie stammelte, „und nun habe ich meinen Mädchennamen nach der Scheidung wieder angenommen!“
Heimat der Liebe
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe
Ausgesetzt
in einer Barke von Nacht
trieb ich
und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlass.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
trank von dem Wasser, das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.
Mascha Kaléko
Elfriede Neureuter suchte das Messer mit der langen Klinge. Damit konnte sie den Schnitt in einem Zug bewerkstelligen. Die Würfel fielen in fast identischer Größe vom Brotlaib. Präzision durch jahrelanges Ritual.
Der restliche Kanten reichte für weitere drei Scheiben. Eine würde sie am nächsten Tag essen, zwei die Enten und Schwäne sättigen. Dann sollte die neue Rentenzahlung auf ihrem Konto eingegangen sein.
Jede Woche lebten die alte Dame und ihre gefiederten Freunde von einem halben Brot. Etwas Käse und eine Wurstsorte ergänzten den Speiseplan.
Ein Blick auf die Uhr im Frühstücksfernsehen verriet ihr, dass sie losgehen musste, um zur Morgenröte am See zu sein.
Ihr Herz klopfte schneller, sobald Elfriede an den Herrn dachte, der an den vergangenen drei Tagen dort mit ihr geplaudert hatte.
Sie nahm die Handtasche und den Gehschirm vom Haken, der letzte Griff galt dem Schlüsselbund. Nach einem prüfenden Blick zurück, schloss sie die Wohnungstür.
Mit leisem Singsang schritt sie die Treppe hinunter. Sie musste sich dabei auf den Schirm stützen. Sie lächelte, als der Hund in der ersten Etage sie erkannte und hinter der Tür jaulte.
Die Gassen waren unbelebt, viele Jalousien geschlossen. In einigen Fenstern brannte Licht, man hörte Kaffeetassen klappern und eine Radiostimme erklärte das kommende Wetter. Elfriede Neureuter ging zielgerichtet ihren Weg. Konsequent setzte sie Schritt für Schritt wie an jedem Morgen.
„Bewegung hält jung“, hatte ihr Arzt geraten.
Von Weitem sah sie den Rücken des Herrn, mit dem sie sich hier unverabredet traf. Elfriede fühlte ihr Herz wieder klopfen und setzte die Schritte beschwingter. Mit dem Handrücken ertastete sie ihre glühenden Wangen und verdrehte lächelnd die Augen.
In Rufweite ging sie langsamer, atmete durch und strich sich die weißen Haare glatt.
„Guten Morgen, Herr Schmidt.“
Herr Schmidt lächelte sie an.
„Guten Morgen, werte Frau Neureuter.“
Sie setzte sich neben ihn und platzieren die Plastikdose mit den Brotwürfeln auf ihrem Schoß so, dass sie bequem hineingreifen konnte.
„Frau Neureuter, warum heißen die Enten nicht auch Vogel, wie der Eisvogel, also Entenvogel?“
Sie lachte. Betrachtete von der Seite seine gebogenen Wimpern.
„Aber, Herr Schmidt, Vögel ist der Gattungsbegriff für diese gefiederten Tiere, die Eier legen. Zu denen gehören eben auch die Enten. Lernten Sie das nicht in der Schule?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen wartete sie auf seine Antwort.
Herr Schmidt schüttelte den Kopf. Er sah frisch rasiert aus, seine dunklen Haare waren mit interessanten grauen Strähnen durchzogen. Er trug den schwarzen Mantel über einem tadellosen Zweireiher. Der Borsalino verriet eine gute Herkunft. Seine Hände hielten den silbernen Knauf eines Stabes, der ein Spazierstock sein könnte. Nur, dass dieser Lampen hatte, die leuchteten.
„Und ich dachte im Wasser leben Fische, Einzeller und Mikroben?“
Frau Neureuter sah ihn skeptisch an. Der Mann wirkte nicht dumm. Wollte er mit ihr schäkern, wie es seit vielen Jahren niemand mehr gemacht hatte? Sie war erfahren genug, es nicht ernst zu nehmen und lachte mit einem „tj, tj, tj“.
„Herr Schmidt, ich war gestern Abend noch im ,Weißen Hirsch`, hätte Ihnen gern etwas von meinem Pflaumenmus für Ihr Frühstück gebracht. Man kennt Sie dort nicht. Was erzählen Sie mir für einen Unsinn. Ich denke, Sie haben es faustdick hinter den Ohren! Eine alte Frau wie mich so auf den Arm zu nehmen …“
Sie hätte fragen können, wo er nächtigte, das tat sie nicht.
Herr Schmidt wurde rot.
„Sie sollten mir nicht nachspionieren, werte Lady.“
Beide lachten. Elfriede fügte sich und forschte nicht weiter. Wenn er ihr das nicht mitteilen wollte, würde er Gründe haben. Das angenehme Gefühl in seiner Gesellschaft blieb. Seine Stimme unterbrach ihre Gedanken.
„Sagen Sie, Frau Neureuter, was wünschen Sie sich im Leben am meisten?“
Elfriede überlegte. Kinder hatte sie nie bekommen, sich vor langer Zeit schon damit abgefunden. Ihr Mann war viel zu früh gestorben. Die Wohnung hatte sie eingerichtet, die Miete auf Jahre von der ausgezahlten Lebensversicherung bezahlt. Nachdenklich meinte sie:
„Wenn ich täglich Brot für die Enten hätte, das wäre schön.“
„Aha, und was noch? Ist das alles?“
„Nein, ich wünschte, besser laufen zu können, wie ich als Zwanzigjährige lief, und gern würde ich meine Sendungen in Farbe sehen. Aber der alte Kasten tut´s noch.“
Sie lachte.
„Das leuchtet mir ein.“
Herr Schmidt legte seinen Arm um die Schulter der alten Dame.
Elfriede ließ sich das gern gefallen, lehnte sich zurück und schloss die Lider.
„Da, die Sonne geht auf, Frau Neureuter.“
Sie öffnete ihre Augen, aus denen Gefühle tropften.
Die ersten Schwäne und Enten kamen geschwommen, gewohnt, ihr Frühstück zu erhalten. Sie erhoben sich aus dem Wasser, watschelten und stolzierten auf ihre weißhaarige Futterstelle zu. Die teilte Brotkrumen aus, kein Vogel würde zu kurz kommen.
Der Fremde sah sie nachdenklich an.
„Sie wissen, dass Sie auf einem der schönsten Planeten wohnen?“
„Herr Schmidt, nicht so feierlich, Sie leben ja auch hier. Und, Sie haben natürlich Recht, die Erde ist wunderschön. Aber die Menschen zerstören sie und am Ende sich selbst.“
„Ja, Frau Neureuter, so wird es leider kommen.“
Beide sahen in die aufgehende Sonne, die Wolken türmten sich rosa über dem See, auf dem sich in kräuselndem Nass das Licht der Aurora tausendfach brach und glitzerte. Der Chor der Singvögel hatte angesetzt und stimmte den neuen Tag an. Elfriede wischte sich hastig über die Augen.
„Frau Neureuter, ich muss heute Nacht abreisen. Ich habe viel von Ihnen gelernt … über Vögel und Wasser, über Bäume, die Natur. Bleiben Sie meine Freundin? Ich möchte mit Ihnen Verbindung halten.“
Elfriede seufzte und spürte das Hüpfen ihres Herzens in der Brust, ein kleiner gefangener Sperling.
„Ja, gern. Kommen Sie wieder mal in unsere Gegend, an unseren See? Meine Adresse kann ich gern aufschreiben, ein Telefon habe ich nicht. Das war nie etwas für mich. Wer sollte mich anrufen?“
Herr Schmidt setzte sich herum, sah Elfriede gerade ins Gesicht und ergriff ihre Hände.
Um Elfriedes Augen zuckte es, sie sah ausweichend nach unten. Gern hätte sie vorher ihre Hände am Rock abgewischt.
„Ich gebe Ihnen etwas Ähnliches wie ein Telefon.“
Herr Schmidt fischte aus seiner Hosentasche eine schimmernde Metallkugel, nicht größer als eine Kinderfaust, und legte sie in Elfriedes geöffnete Linke. Dann drückte er ihre Finger zärtlich um das blanke Metall.
„Das dürfen Sie niemandem zeigen, und wenn Sie befürchten, der letzte Schwan oder die letzte Ente kommt vom See, können Sie mich damit anrufen, indem Sie unser Geheimnis ganz fest drücken.“ Er zwinkerte.
Ungläubig lachte Elfriede und hatte ein merkwürdiges Gefühl von der Schönheit des Augenblicks. Gern hätte sie eine Weile so gesessen, die warmen Hände haltend und dabei verschwörerisch in diese schönen Augen gesehen.
Herr Schmidt stand auf und ging. Elfriede sah ihm mit geöffnetem Mund nach.
Kurz vor dem Waldrand drehte er sich um, hob den Arm zu einem Gruß. Elfriede schniefte und Tränen liefen ihr kühl und kitzelnd über die Wangen.
„Alberne alte Frau“, sagte sie zu sich und steckte die Erinnerung an Liebe in ihre Manteltasche. Sie lehnte sich zurück und sah auf den See hinaus. Dieser Anblick füllte sie täglich mit Kraft wie eine Vitaminkur.
Am nächsten Morgen öffnete sie den Brotkasten. Warmes Brot lag darin, frisch vom Bäcker. Ungläubig sah sie sich in der Küche um, rief: „Hallo?“
Der kleine Kanten vom Vortag ergab, wie berechnet, drei Scheiben. Sie schaltete den Fernseher ein, wollte bis zum Aufbrechen über das Wetter informiert werden. Erst nach einigen Sekunden entdeckte sie es und hielt die Luft an. Gebannt sah sie auf den Bildschirm: Die Sprecherin hatte rote Haare! Eine Wetterkarte kündigte in Hellblau einen schönen Tag an. Elfriede schüttelte den Kopf, ging zum Apparat und klopfte mit der flachen Hand zweimal auf den alten Kasten. Die Farbe blieb …
Die Moderatorin berichtete über seltsame Lichterscheinungen während der vergangenen Nacht über Elfriedes Wohngegend.
Sie eilte zu ihrem Mantel und holte die Kugel heraus. In ihrer Hand begann diese zu leuchten und Herr Schmidt lächelte sie an, wie aus einem Fernsehapparat. Er grüßte winkend.
Elfriede juchzte und ließ das Metallgebilde in die Tasche gleiten, machte einen Schritt zurück und sah ungläubig zur Garderobe. Sie schüttelte den Kopf.
Lachend rannte sie zur Tür, nahm den Schirm und sprang singend, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Der Hund bellte heute lebhaft. Auf der Straße blieb sie vor dem Schaufenster des BUND* stehen und studierte die Sprechzeiten …
* Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
Trockenperiode
Er stolperte. „Scheiße!“ Da ist die Tür. Er kannte diese ganz genau. Wieder stolperte er über diese blöde Rasenkante, die da links und rechts den Weg säumte. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Pause. Er lehnte sich mit der Stirn gegen den Eingang. Bloß jetzt nicht die Alte wecken. Das Gezeter würde ihm den Rest geben. Sein Keuchen war bestimmt im ganzen Ort zu hören. Ihm war so schlecht. Ein Hund hatte angefangen zu bellen. „Mistvieh!“ Vielleicht sollte er es lieber nüchtern versuchen?
Der Schlüssel schabte über das Türblech, als wolle er unbedingt Kreise um das Schlüsselloch ziehen. Je mehr er sich bemühte, das Loch zu treffen, umso ungenauer wurden die Kreise. Der Schlüssel rutschte immer wieder vom Schließblech ab. Das klapperte. Nun konnte er sich nicht halten, kippte gegen die Tür. Das rumste. Dieser blöde Alkohol!
Warum machte er das hier? Passte der Schlüssel überhaupt?
Warum, verdammt, war er so unzufrieden mit seinem scheißbeschissenen Leben?
Die Tür wurde mit einem Mal von innen energisch aufgerissen. Ein Schlag traf ihn an der Stirn. Er stürzte der Länge nach ins Haus. Hart schlug er auf. Er hörte dieses Rauschen. Diese Gestalt, wie ein Derwisch, wie eine Hexe!
Schmerz! Ein heftiger Ruck auf seinem Kopf. Ein tosendes Stechen in ihm. Dann wurde alles leer.
Sechs Tage zuvor
Elvira saß auf dem weißen Küchenstuhl. Sie strich mit ihrer linken Hand beim Lesen mechanisch über die Tischdecke. Das wiederholte sie immer wieder, wie mit einem kalten Plätteisen. Die Sonne schien ihr direkt auf die Zeitung. Sie las ihr Horoskop ein zweites Mal.
„Fische: … Sie sollten sich auf eine große Veränderung vorbereiten, etwas Entsetzliches wird sich ereignen. Kontaktieren Sie hilfreiche Freunde …“
Sie las weiter:
„… Achten Sie auf Ihre Gesundheit und Geld fällt nicht vom Himmel.“
Was soll passieren?
Ihr wurde unheimlich. Sie las jeden Tag das Horoskop in der Zeitung, für die ihr Mann in der Sportredaktion tätig war.
Als er nach Hause kam, fragte sie ihn: „Sag mal, Harry, wer schreibt eigentlich eure Horoskope?“
Beim Ausziehen des Mantels antwortete er: „Ach, so ´ne Schülerin von der Tessier, kennst´e doch, die aus´m Fernsehen.“
Elvira nickte vor sich hin: „Ja, die Elisabeth Tessier, eine schöne und kluge Frau.“ Sie ging wieder in ihre Küche. Später beim Essen dachte sie darüber nach, welche Katastrophe sie treffen könnte.
Mit geöffneten Augen lag sie neben ihrem schnarchenden Mann. Ihr Blick war grübelnd an die Decke gerichtet. Sie war neugierig auf das Horoskop am nächsten Tag.
„… wenn Sie jetzt nicht handeln, wird es Ihr Leben verändern, rechnen Sie mit einem Inferno …“
Nein, das konnte doch nicht sein. Sie las alle anderen Horoskope.
Der Wassermann sollte glücklich werden, die Waage gewinnen, die Löwen schienen sich unentwegt zu paaren. Nur die Fische mussten wohl mit einer Trockenperiode schlimmsten Ausmaßes und leeren Flussbetten rechnen.
Sie atmete stoßartig.
Als ihr Mann an diesem Abend nach Hause kam, sah er sie erwartungsvoll an. Kein Wunder, war sie doch totenbleich.
„Harry, wonach richtet sich eure Tessierschülerin eigentlich?“
„Ach, die hat so Karten, wie drehbare Sternkarten und ein Computerprogramm. Wieso?“, fragte er misstrauisch.
„Ach, schon gut.“, sagte sie mit schwächelnder Stimme. Harry saß noch lange in seinem Arbeitszimmer, als sie schon längst im Bett war.
Der Folgetag brachte keine Besserung bei den Prophezeiungen in der „Fischabteilung“:
„… Sie sollten sich wappnen. Legen Sie sich Alternativen zurecht. Es häufen sich bei den Fischgeborenen tiefe Einschnitte in ihr gewohntes Leben …“
Am nächsten Tag:
„… wenn Sie überleben wollen, brechen Sie zu einer Ihr Leben verändernden Reise auf. Sie müssen Ihr gewohntes Umfeld verlassen, denken Sie an Neuanfang …“
Das gibt es doch nicht, dachte Elvira, alle Sternbilder hatten die üblichen beruhigenden und weisen Ratschläge für ein gesundes genügsames Leben.
Nur bei den Fischen schien die Katastrophe unaufhaltsam.
Wieder:
„… die Fische sollten ihr altes Leben überdenken und ein neues beginnen. Werfen Sie alles, auch Menschen Ihrer Umgebung, über Bord. Es werden sonst Krankheit und Verfall nicht ausbleiben …“
Hat man Worte, dachte sie und las es erneut. Sie kannte ja kaum jemanden. Freunde hatte sie gar keine.
Entschlossen fuhr sie in den Buchladen des Ortes. Dort kaufte sie, nach langem Suchen, den Leitfaden: „Wie verteidige ich mein Haus. Aus dem Amerikanischen, herausgegeben von der Liga Sicherheit und Waffe“.
Elviras Mann kam am Freitag spät nach Hause. Er teilte ihr mit, dass er von Samstag bis Donnerstag zu einem Leichtathletikfest nach Oslo müsse. Elvira solle seine Sachen packen und seinen Flanellschlafanzug nicht vergessen. Da oben im Norden hätten die schon Winter. Er sah seine Frau verwundert in einem nie gesehenen Jogginganzug. Sie trug, solange er sie kannte, immer Kleid und Schürze.
Elvira, in deren Kopf nur Horrorvisionen einer kommenden Apokalypse spukten, packte. Teilnahmslos, ohne darüber nachzudenken, legte sie Unterwäsche, Hemden, Socken und den Rest ordentlich in seinen Lederkoffer.
Danach schleppte sie ihn in die untere Etage des Hauses, stellte ihn neben die Eingangstür.
Ihr Mann kam aus dem Arbeitszimmer und murmelte noch etwas. Er verschwand mit einem flüchtigen Wangenkuss. Ein Taxi war vorgefahren.
Elvira war allein im Haus und schlich, flach atmend, herum.
Der Abend kam und sie fühlte sich unsicherer denn je. Sie schloss die Fenster. Sorgfältig hatte sie das Telefon neben sich gestellt. Im TV lief ein alter Edgar-Wallace-Film. Jedes Mal, wenn die blassen Augen des Klaus Kinski auf der Bildfläche erschienen, zuckte sie mit einem leisen Aufjuchzen zusammen. Es fehlten nur noch Gewitter und flatternde Vorhänge, dann wäre sie für immer erstarrt.
Vor ihren Füßen lag dieser schwere Schläger aus Holz, mit dem man Sport machen könne. Den Knüppel hatte ihr Mann vor Jahren aus Amerika mitgebracht.
Nun hörte Elvira ein Schleifen im Garten. Ein Poltern. Sie verharrte in ihrer Position und hielt die Luft an.
Jemand kratzte an der Wohnungstür. Das klang metallisch. Das „Große Fischsterben“ war eingeleitet. Elvira zitterte. Sie schaltete den Ton des Fernsehers aus.
Der Foxterrier ihres Nachbarn bellte wehrhaft. Guter Hund, dachte Elvira, vielleicht kommt noch rechtzeitig Hilfe. Wie spät war es eigentlich? Halb drei, las sie auf der Wanduhr.
Da, wieder ein Schaben und Klirren. Sie hielt es nicht mehr im Sessel aus.
Elvira erhob sich, nahm den Baseballschläger und ging durch den Flur. Sie schlich wie eine Katze. Ihre Nackenhaare tanzten Ballett. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie erinnerte sich an jedes ihrer Horoskope der letzten Woche. Die Worte Katastrophe, Ortswechsel, unausweichlich, garantiert gefährlich, düstere Zukunft, rasten durch ihre Gedanken. Schritt für Schritt erreichte sie die Haustür und hielt inne, den Schläger fest in ihren zitternden Händen.
Sie hörte ein widerliches Keuchen und Stöhnen von der anderen Türseite. Nun folgte ein Kratzen, wie von spitzen blutigen Nägeln einer Bestie. Ein Rinnsal Schweiß lief ihr über die Schläfe. Wer ist das? Ist das ein Lustmörder oder ein Einbrecher? Ist das vielleicht nur die Verwechselung in einem Drogenkrieg?
Nein, dachte Elvira, mich vertreibt hier keiner aus meinem Nest.
Sie erhob den Schläger, riss die Tür auf und schlug im gleichen Moment zu. Der Eindringling stöhnte auf. Unter dem Hut im Halbdunkel konnte sie nichts erkennen, schlug ein zweites Mal zu. Wie es krachte, sie hatte zweimal den Kopf getroffen. Ihre Hand vibrierte, der Schläger fiel auf den Fußboden. Elvira wankte zum Telefon und wählte die 110.
Am nächsten Tag klingelte Elviras Hausglocke. Sie schleppte sich, mit tiefen Ringen unter den Augen und noch immer zitternd, zur Tür. Der Beamte, der dort stand, lächelte verlegen und bat um Eintritt. Elvira winkte ihn wortlos herein.
Als sie sich in der Polstergarnitur gegenübersaßen, sah er sie mitleidig an. „Frau Höppner, wir haben inzwischen erfahren, warum Ihr Mann nach Hause geschickt wurde. Er hatte in stark alkoholisiertem Zustand seinen Chef beleidigt. Anlass waren wohl Beschwerden zu den Horoskopen, die Herr Höppner seit zwei Monaten in Vertretung schrieb. Was ich Ihnen jetzt mitteile, wird Ihnen nicht gefallen. Ein Kollege Ihres Mannes sagte aus, dass Ihr Mann die Horoskope dazu nutzen wollte, sich von Ihnen zu trennen. Er wollte sich von Ihnen scheiden lassen. Wussten Sie davon? Erzählen Sie mir nochmals, wie Sie den Tathergang erlebten. Wie war das Verhältnis zu Ihrem Mann? Das ist wichtig für Sie selbst und die Anklageschrift. Die Staatsanwaltschaft wird dann entscheiden…“, er holte tief Luft, „… zwischen Mord oder Totschlag!“
Havarie
Er nahm noch einen tiefen Schluck! Dann besah er die leere Flasche, löste vorsichtig das Etikett, wie er es so oft geübt hatte, drehte es um. Schrieb mit dem verbliebenen Stift: „Helft mir, ich bin allein!“.
Mit weitem Schwung holte er aus. Er musste Kraft aufbringen, damit die Flasche mit Botschaft nicht an diesen blöden Steinen zerschellte. Sie flog. Ihr Umriss zeichnete sich gegen den Abendhimmel ab, wie sie sich drehte und rotierte. Dann entschwand sie seinem Blick. Er hielt die Luft an, lauschte.
Entweder würde es nun einen klirrenden Schlag geben oder nur einen Plopp vom Aufprall auf dem Wasser.
Plopp!
Ein Wasservogel erschrak im Halbdunkel, hatte sicher schon gedöst und zeterte jetzt.
Dann erhob sich der Alte und wankte seiner Schlafstatt zu. Morgen würde am Abend erneut eine Flasche aus seiner Reserve entleert sein und er würde sie wieder nutzen, um seine Bitten ins jenseitige Wasser zu senden.
Die Nacht senkte sich vollends über die sich als Scherenschnitt abzeichnende Silhouette der umliegenden Natur. Ein Schnarchen erscholl.
Die Sonne wanderte an der Wolkentreppe munter hinauf, das Blau zu einem Coelin zu erleuchten. Lachte schadenfroh über alle, die unter der Hitze litten. Pflanzen, Tiere und unser Eremit. Schweißgebadet erhob er sich. Die Haare klebten an seiner Stirn, das Hemd am Rücken. Die Hose zerrte er mühselig aus der Falte seiner Pobacken. Er hatte das Gefühl, die Hose müsse ausgewrungen werden. Als er so auf seinem Eiland stand und sich umsah, stellte er fest, dass er die Fläche mit den Tomatentrieben dringend wässern müsse, wenn die Jungpflanzen überleben sollten. Mühselig hatte er aus einer der letzten Fleischtomaten die Samen extrahiert vor dem Verzehr, um sie dem Boden zu übergeben.
Er lief einige Schritte vor und versuchte über den Rand der Gewächse, das Wasser zu erspähen. Würde er die Flasche von gestern Abend dort schwimmen sehen?
Das Wasser lag trüb und träge, so weit er sehen konnte, obwohl der strahlende Himmel sich zu reflektieren versuchte. Der erblindete Spiegel reagierte matt und stur.
Einige Vögel schwammen aufgeregt hin und her, andere kreisten darüber in der sengenden Luft.
Er setzte seinen Strohhut auf, der an einigen Stellen Löcher aufwies. Die verbliebenen Flächen schützten tapfer vor der unbarmherzigen Glut.
Dann wendete er sich dem Quell des Süßwassers zu, hielt beide Hände darunter und schaufelte damit. Wasser floss über seinen Nacken, sein Gesicht, seine Brust. Kaltes Nass! Und eine Doppelhandschaufel beförderte kühle Flüssigkeit in seinen Mund. Er schluckte schnell und bemerkte erst jetzt den Brand, der vom Leeren der gestrigen Flasche stammte.
Er stützte sich auf seinen Stock und lief seine Einöde ab. Viele Schritte musste er dazu nicht machen. Die Ideen, die in seinem Kopf dabei entstanden, verwarf er so schnell wie brennende Papierseiten zu Asche verglimmen.
Später würde er ein Feuer entfachen, einen toten Vogel grillen, zerlegt in Beine, Flügel, Brust. Und schnell kam der Abend, nachdem die Sonne mit einem miesepetrigen Antlitz, die Wolken wieder herab gehangelt, an Brennkraft verloren hatte. Er rief ihr noch zu. „Verpiss dich, Alte. Du verdorrst alles um mich herum erbarmungslos. Mir ist lieber, du versteckst dich hinter Wolken!“
Als Reaktion war ein Heulen jenseits des Busches zu hören.
Ein kleines gebogenes Blechteil, auf einer Seite weiß emailliert, diente ihm als Feuerschale. Am trocknen Stroh entzündete er geschickt eine kleine Flamme, die er mit Spänen, Zweigen und später kräftigeren Ästen fütterte. Grauer Rauch stieg auf und wenn der launige Wind drehte und ihn anblies, musste der Alte husten. Manches Mal so heftig, dass ihm die Luft wegblieb.
Aus dem Kasten, die neben der Feuerstelle stand, entnahm er die letzte Flasche seines Vorrates und entkorkte sie mit einem Taschenmesser. Guter Jahrgang! Rotwein. Er setzte sie an und der erste Schluck rann durch seine Kehle, Wärme breitete sich in seinem Magen aus und das zittrige Gefühl im Körper verschwand schlagartig. Er setzte ab und holte tief Luft. Wenn die Sonne nicht schon fast hinter dem Horizont verschwunden wäre, hätte sie ein kleines Lächeln in dem runzligen Gesicht des Trinkenden erkennen können.
Plötzlich huschte vor dem Alten ein Langohr über die vertrocknete Wiese. Die Horchlöffel schaukelten. Das Tier blieb sitzen, wackelte mit der Nase und blickte, ohne den Kopf zu drehen zu dem Alten hinüber. Der dachte: ‚Geh ‘rein, in die Falle, du blödes Vieh!‘ und spuckte aus, als das hellbraune Fellbündel weitersprang.
Das Fleisch tropfte nun in die Flammen und immer wenn der Saft auf Glut traf, zischte es drohend. Der Duft zog wie eine kleine verführerische Wolke über das Gelände. Dem Alten lief das Wasser im Mund zusammen. Er wusste jedoch, er müsse noch ein wenig warten, damit er mit seinen drei Zähnen das Fleisch in kleinen Fasern leicht vom Knochen abziehen könnte. Seine Augen leuchteten nun, da sich die Flammen darin spiegelten. Seine Lippen waren benetzt mit roter Flüssigkeit, die am Bart hinab sabberte.
Er besah sich seine dunklen Fingernägel, seine schmutzigen Hände und wischte sie an seiner Hose, von einem Brummen begleitet, ab. Dann spuckte er wieder. Manchmal bildete er sich ein, Rufe zu hören. Das waren sicher Halluzinationen. Wieder nahm er einen tiefen Hieb aus der Flasche. Musste ein wenig husten. Setzte ab und wischte mit dem Ärmel der Jacke seinen Mund ab. Dabei schlürfte er genüsslich das Aroma durch die drei Zähne.
Der Vogel schien nun gar genug zu sein und der Mann griff nach dem ersten Schenkel, den er fluchend fallen ließ. Zu heiß war der Knochen, an dessen Spitze er vorsichtig zugegriffen hatte. Verschätzt!
Das Bein fiel vor ihm ins Gras. Er wartete einen Augenblick, wedelte zwei tanzende Wespen davon. Er starrte das geröstete Gewebe des Tieres an, sinnierte über die Nahrungskette. Dann griff er erneut zu.
Der erste Biss in das Fleisch war tief und genussvoll. Vergessen war, dass er keine geschlossene Zahnreihe hatte und musste nun ein wenig zerren und reißen, um das angebissene Stück aufzulösen. Im Mund bewegte er die Kiefer aufeinander, die Zahnstummel rieben das zarte Fleisch, er speichelte es genüsslich ein und lutschte und schmatzte und zermalmte die Fasern und er grinste breit. „Das lass ich mir gefallen! So lässt sich leben!“, rief er dem glänzenden Sensenblatt zu, das nun am Himmel Posten bezogen hatte. Nachtwache!
Endlich war alles aufgegessen, aufgelutscht, nur noch die Glut glomm im Steinkreis der Feuerstelle und der letzte Schluck Wein war in der Flasche zu vernichten. Er fixierte die Neige, schniefte kurz, setzte die Flasche an, ließ die Pfütze in seinen Rachen laufen, schluckte ihn schließlich grunzend hinunter. Dann löste er wieder einmal das Etikett, schrieb darauf mit dem alten Filzstift: „Niemand kümmert sich um mich!“.
Das Schild mit der schönen Goldkante steckte er in den Glaskörper, verkorkte die Flasche und erhob sich. Mühsam stellte er ein Bein aus, stemmte sich auf seinem Knie ab, nahm ächzend Schwung und schaukelte sich mit ein, zwei, drei Bewegungen auf. Dann torkelte er zu dem Rand seiner Ödnis.
Die Mondsichel beschien alles metallisch klar. Das Wasser glitzerte in dem Licht wie flüssiges Silber. Einige Vögel trieben auf ihm, die Köpfe ins Gefieder gesteckt. Mücken tanzten über seinem Kopf und summten ein hungriges Lied. Der Eremit nahm Schwung, die Flasche am Hals gegriffen, wie ein Olympionike seine Keule bewegen würde, und warf in hohem Bogen seine Post in das Wasser. Die Flasche war sicher geführt. Plopp!
Der Alte seufzte, sah dem treibenden Gefäß zu, wie es in hüpfender Bewegung schwamm und sank.
Dann drehte er sich um und torkelte zu seinem Lager. Morpheus küsste ihn und er fiel in einen tiefen schnarchenden Schlaf.
Am nächsten Morgen, als er tief Luft ziehend, gleich einer Schnappatmung erwachte, dass ringsum alle Tauben aufflogen, sah er sofort, dass vor seiner Lagerstatt etwas verändert war.
Gleich Robinson, als der die ersten Spuren Freitags sah, schoss er erschrocken auf und torkelte eilig auf das Entdeckte zu. Eine Flasche! Die verdächtig aussah, wie eine von seinen eigenen in die Welt geschickten.
Er hob die Pulle an und hielt sie gegen die altkluge Sonne. Die lachte heute nicht, sondern bleckte die Zunge heraus. Das ignorierte er jedoch.
Im Gegenlicht schüttelte er das Glas und konnte erkennen, dass darin eine Botschaft versenkt war. Entschlossen hieb er das Gefäß auf den Baumstamm neben sich, ungeachtet wohin die Scherben springen würden. Und nahm den Zettel heraus:
Abmahnung!
Wertes Vereinsmitglied Johann Schuller,
hiermit werden Sie ordnungsgemäß nach Satzung des Kleingartenverbandes und nach Bundeskleingartengesetz § 3 Kleingarten und Gartenlaube, abgemahnt.
Alle anderen Vereinsmitglieder unserer Scholle „Mittagsruhe“ dulden keine weiteren Belästigungen mehr durch Sie. Sie erhalten umgehend die Kündigung, wenn Sie weiterhin Flaschen in unseren Entenweiher werfen, Laub und Abfälle verbrennen, in Ruhezeiten laute Schimpftiraden von sich geben.
Wir haben registriert, dass Sie Bemühungen starteten, die Anbau- und Flächennutzungsbestimmungen zu befolgen. Wir bezweifeln jedoch, dass aus ihren Pflanzenkeimlingen einmal Tomaten entstehen werden. Auch sonst gleicht Ihre Parzelle eher einer Mondlandschaft. Wiederholt wurden Sie darauf aufmerksam gemacht, dass die Höhe der Heckenpflanzung Regeln zu folgen hat.
Wir legen Ihnen nahe, Ihre Pacht selbst zu kündigen und bitten Sie, diese Fläche Gartenfreunden frei zu machen. Die Warteliste unseres Vereins umfasst eine Vielzahl an ernsthaften Interessenten.
Alle Mitglieder unseres Vereins haben dieser Abmahnung zugestimmt und fordern Sie auf, ruhestörenden Lärm und das Werfen leer getrunkener Weinflaschen ab sofort zu unterlassen.
Wir bedauern den plötzlichen Verlust Ihrer Gattin natürlich sehr. Leider haben Sie keine unserer Hilfsangebote und Einladungen angenommen.
Hochachtungsvoll
Vorstand des Kleingartenvereins
„Mittagsruhe“ e.V. … unleserlich unterschrieben …
Glut
Die Klimaanlage surrt leise. Das Geräusch erzeugt ein beruhigendes Gefühl. Ich fühle die Frische auf der Haut, mein Geist ist frei und klar. Durch die Scheibe sehe ich den Sommer in seiner Unbarmherzigkeit an allem Grün zerren und fressen. Seine glühenden Fingerspitzen streichen über die Enden und Spitzen von Laub und Blüten, hinterlassen braune Ränder, die auf die Endlichkeit hinweisen.
Ich verfasse einen Arztbrief, dieser Patient erlebt seine letzten Tage. Die Stimmung und Ruhe an diesem Sonntag in meiner Praxis lassen mich verweilen, verweilen in Augenblicken und Zurückdenken an Vergangenes.
So wie dieser Sommer vergehen wird, vergeht alles, jede Jahreszeit, jede Blüte verwelkt, jedes Leben endet einmal.
Und die Grundlage des Lebens ist in der gesamten Natur die Fortpflanzung. Die Befruchtung, die nach dem Sommer Früchte trägt und manchmal in einem Sommer Früchte erzeugt für ein ganzes Leben.
Ich sehe auf das Familienfoto auf dem Schreibtisch und freue mich über die Ähnlichkeit zwischen meiner Tochter und meiner Frau. Ich lächle und nun tritt doch ein feiner Schweißfilm auf meine Stirn. Das liegt aber an dieser Mehndi-Zeremonie 1993, die mir in den Sinn kommt. Ich war zwölf Jahre alt.
***
Gia und ich sitzen auf dem Dach unseres Hauses. Die Hitze drückt von oben wie ein Deckel, der den Topf schließen will, und nur unser Dampf verhindert das, lässt ihn unentwegt klappern. Schweißperlen rinnen am Körper herab, die wir ignorieren. Peschawar im Juli, wie wir es kennen.
Knapp, dass wir mit unseren Köpfen über den Rand der Dachterrasse lugen. Gia ist ganz zappelig und zieht an meiner kurzen Kurta. Ich lache, weil sie so vertieft ist in dem, was sie mir zeigen will. Gia, Wajheea Adnan, ist zwei Jahre älter als ich, Klassenbeste und hat mir vor einigen Tagen ihre Kaninchen gezeigt. Was ich anfänglich im Gespräch für ihre neuen Haustiere hielt, entpuppte sich später real als ihr Busen, den ich betrachten und betasten durfte. Mir war ganz schwindelig geworden und ich hatte kaum gewagt zu atmen.
Das war heute wieder so ein Tag, bei dem mir Gia etwas zeigen will, was meinen Horizont erweitern soll.
Ich bin gespannt.
„Warte, du Dummkopf!“ Ich bewege mich gar nicht. „Und sieh´ hin!“
Ich halte meine Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen.
„Da, Adil, da ist er!“ Sie gibt mir einen Klaps an den Hinterkopf. Ich habe gar keine Zeit empört zu sein, denn sie greift mein Kinn, reißt an meinem Kopf, den Blick in die richtige Richtung zu lenken. Den Schweiß meiner Wangen wischt sie an meinem Oberteil ab.
Auf dem Dach, zwei Häuser weiter, erscheint Sharoom, Sharoom Bahtii. Er ist derjenige, den es sicher in den meisten Schulen einmal gibt. Der kraftprotzende Liebling aller Mädchen. Wenn er den Schulhof betritt, stecken die Mädchen tuschelnd ihre Köpfe zueinander. Bei jedem Sportfest erntet er Siege und Medaillen.
Dieser Protz reckt sich mit freiem Oberkörper auf dem Dach seines Hauses, stellt sich breitbeinig auf und schüttelt seine Löwenmähne. Ich erwarte, dass er einen Brunftschrei ausstößt.
Gia klopft mir auf die Schulter; „Guck nur, sieh!“
„Ich sehe ja. Aber was soll ich den begaffen, lass uns weiterspielen.“
„Boah, seine Muskeln und die Behaarung. Das ist ein Mann! Jetzt ehrlich! … Zeig mal, hast du Haare?“ Und schon reißt sie meine Kurta hoch und wuschelt über meine Brust, meinen Flaum, der sich neuerdings ausbreitet und lacht dabei.
Mir wird heißer als schon unnötig und mein Gesicht glüht, glüht jetzt wie ein Stück Kohle kurz vor dem Zerfallen. Am liebsten würde ich fortlaufen. Aber dann wäre ich dem Gespött Gias ausgesetzt und darauf verzichte ich gern. Schließlich mag ich sie ja.
Gia blickt noch eine Weile hinüber. Sharoom startet Kraftübungen, besitzt eine Hantelstange, die er in Rückenlage gegen den heißen Himmel drückt.
Mir ist langweilig. Mich nervt der Junge. Ich möchte lieber die unangefochtene Aufmerksamkeit meiner Gefährtin. Etwas regt sich in meinem Magen, ein Gefühl von Unmut und Wut und ich weiß nicht, wo das herrührt.
Ich lehne mich an die Brüstung mit dem Rücken zu den Nachbardächern. Sehe in eine andere Richtung. Blöder Sharoom!
Gia atmet tief ein und aus, „Sharoom sagt, er könne jede Frau auf der Welt küssen, wenn er wolle. Kein Weib würde ihm widerstehen. Krass oder? Sag mal was, Kleiner! Wie findest Du das?“
„Mir egal!“, behaupte ich.
Wir verabschieden uns, denn die Sonne hatte zähflüssig der Nacht Platz gemacht. Eine Nacht, die keine Abkühlung bringt. Wir sind mitten im Monsun, alle warten auf Regen. Ich schwimme im Bett, das Laken klebt. Die Glut, die sich in meinem Magen festgesetzt hat vergeht nicht, rumort und bohrt in mir. So, als wäre ich der Nächste in der Reihe auf dem 10-Meter-Turm der Schwimmhalle. Was ist mit mir los?
Am nächsten Morgen starte ich mit einer üblen Laune. Am Frühstückstisch herrscht eine aufgeregte Freude, alle gackern durcheinander. Irgendwann fragt meine Mutter: „Was hältst Du von der Idee, dass wir alle in der gleichen Farbe zum Fest gehen?“
„Welches Fest?“, schnarre ich und bemerke, dass ich nichts mitbekommen habe, bin mit meinen Gedanken woanders. Wo nur? Werde ich krank?
„Wir haben eine Einladung von Bahtiis, Enaan wird heiraten. Wir gehen alle zur Mehndi-Zeremonie. Das ist eine große Ehre. Nicht jeder in der Nachbarschaft ist eingeladen und wir müssen einen guten Eindruck machen. Die Frauen ehren die Braut und verabschieden sie in ihr neues Leben. Männer dürfen auch teilnehmen. Zu Shahdie und Walima sollen wir dann auch kommen, das wird teuer! Drei teure Tage, die wir aber genießen werden.“
Ich verdrehe die Augen.
„Was hast Du denn, Adil?“
„Ach nichts. Aber ich weiß nicht, warum alle immer so viel Gewese machen um die Familie von Sharoom.“
„Sharoom ist der Bruder des Bräutigams und der beste Sportler der Schule und ein sehr netter Schüler!“, tönt meine Schwester mit kirschroten Wangen.
„Lasst mich alle in Ruhe!“, brumme ich auf dem Weg in mein Zimmer.
Das Fest kommt, wir gehen alle in gelber Kleidung und sehen albern aus, wie ich finde. Die Hitze ist unerträglich und wir sind in unserem Festgewand gefangen.
Die Frauen bemalen Hände und Füße mit Henna. Musik begleitet die Stimmung, eine Tanzgruppe klatscht im Takt und dreht sich im Kreis. Die Männer stehen abseits, lächeln und sehen der Weiblichkeit zu. Die halbe Nachbarschaft ist im Hof. Die Küche dampft und zischt. Ich bekomme kaum Luft.
Gia ist mit ihren Eltern ebenfalls anwesend und hat sich zu mir gestellt. Sie spricht schon wieder von Sharoom, was der sich so denken würde und wie er wohl die Mädchen betöre. Meine Kehle wird eng, alles zieht sich in mir zusammen. Ich glühe wie im Fieber.
Nach dem Essen verabschiede ich mich bei meiner Mutter, ich wolle noch etwas lernen, und gehe durch den Hof zu uns hinüber. Auf dem Dach genieße ich den feinen Luftzug, im Haus ist es stickig. Plötzlich sitzt Gia neben mir. „Geht es dir gut, kleiner dummer Esel? Bist du krank? Mir fehlt mein lustiger Adil. Wo ist er? Hat der Monsun ihn verbrannt?“
Ich sehe ohne Antwort in ihre funkelnden Augen und denke an ihre Kaninchen.
Gia dreht sich um und blickt wieder hinüber zu dem Haus, aus dem ich eben geflohen war. Musik quillt zu uns hinauf wie Lava. Gerüche nach Hühnchen, Lamm, Batura und Kichererbsenfladen parfümieren die aufsteigende Luft. Das Haus hüpft in der flirrenden Aura zum Takt von Dholak und Dhoi. Nun erscheint drüben auf dem Dach Sharoom, allein. Er blickt in den Himmel und trinkt eine Limonade.
Gia erhebt sich und läuft eilig auf die andere Terrassenseite. Ich nehme an, sie möchte nach unten verschwinden. Aber sie dreht sich um, rennt los, auf mich zu. Ich öffne meinen Mund und starre sie ungläubig an. Bei mir angekommen, stemmt sie sich mit ihrem rechten Fuß auf meinem angewinkelten Knie ab und springt…
Die Irre springt über die Gasse auf ihr Dach, Dupatta und Haare flattern wie ein Schweif. Angekommen, dreht sie sich zu mir um, lacht und hält beide Hände wackelnd vor ihre Nase. Dann nimmt sie wieder Anlauf und springt auf das Dach von Sharooms Haus. Sie landet galant wie eine Katze. Langsam geht sie auf Sharoom zu. Sie redet auf ihn ein. Dann lächelt sie irgendwie magisch. Er blickt sie mit erstarrter Miene an.
Jetzt geschieht etwas Furchtbares. Gia umfasst seinen Hals, zieht ihn an sich und küsst den Jungen. Die Lippen berühren sich und lassen nicht wieder voneinander ab. Als Gias rechtes Bein sich hebt, steht sie einen Augenblick grazil einer Elfe gleich. Sie lässt ihn los. Klatscht mit der flachen Hand gegen die Stirn Sharooms und verlässt das dortige Dach durch die Tür. Ich bedecke mit meinen Händen mein Gesicht. Mein Herz pocht heftig.
Sharoom bewegt sich nicht, steht wie eine Statue. Es regnet wie aus einer aufgedrehten Dusche, dazu Blitze und Donnern.
Mir ist übel, es würgt mich. Nass glitsche ich in mein Zimmer und liege auf dem Bett. Ewig sehe ich in den kreisenden Ventilator. Wenn jemand Gia bei dieser Aktion beobachtet hat, wenn Sharoom sie anklagt, ist ihr Ruf in dieser streng muslimischen Gemeinde für immer verdorben, beschmutzt und entehrt. Niemand wird sie mehr respektieren. Wenn nicht sogar noch Schlimmeres passiert.
Am nächsten Tag in der Schule kommt Gia auf mich zu und fragt: „Warum hast du gestern nicht mehr aufgemacht? Ich habe geklopft.“
Übermüdet erwidere ich gedehnten Tones, dass ich schon geschlafen hätte.
Gia schiebt mich in die Ecke des Schulflurs, wo die Besen stehen, und ist sehr nah. Unsere Brustkörbe heben und senken sich vereint.
„Dummer alter Esel. Weißt du, was ich zu Sharoom gesagt habe? Es gibt Mädchen, die bestimmen selbst, wen sie küssen und die Vorführung ist das, was er bei mir nie einfordern könne, außerdem sei er ein arroganter Sohn einer Eselin. Ihm fehlt es an Respekt. Dann habe ich ihm nach meinem Kuss eine geklatscht und bin gegangen. Das musste ich tun. Ich hasse diese Art Machos.“
Ich starre sie an. Diese Freundin ist verrückt und das schönste Mädchen der Welt.
Dann gibt sie mir einen zärtlichen Kuss, den ersten meines Lebens, hält mich ganz fest.
Manchmal nennt sie mich heute noch „Dummer alter Esel“.
Die Sache mit den Vögeln
Hallo erstmal, Sie kennen mich ja schon. Neulich habe ich Ihnen erzählt, was passiert, wenn man Heimlichkeiten mit Missverständnissen paart und am Ende beim Italiener Hausverbot bekommt. Aber das war nun auch eine andere Geschichte. Für die, die mich noch nicht kennen, ich bin Hilde Kalweit, von Geburt an und Herzen Berlinerin und lebe gut bürgerlich Beletage … mit meinem Mann Herbert. Die Kinder sind aus dem Haus und alle was geworden. Davon erzähle ich Ihnen gerne ein anderes Mal.
Wir sind das, was man ein rüstiges Rentnerehepaar nennt und heute möchte ich einmal aus dem Nähkästchen plaudern. Keine Bange, nicht zu viele Details, nur so viel, dass Sie erkennen, auch bei Rentnern tut sich was, mehr als viele annehmen.
Was habe ich mich immer gewundert, wenn meine Großmutter, Gott hab´ sie selig, von ihrem Hausfreund erzählte, bis ich die Ohren zuhielt und nur noch „Omi!“ rief.
Aber darum geht es ja gar nicht, ich schweife schon wieder ab.
Also Sie wissen ja, dass wir gerne Doppelkopf mit Klara und Erwin spielen. Sie erinnern sich? Manchmal aber, wenn die Klara so ihre eigenen Macken hat und bisschen zickig ist, kommt nur Erwin zu Besuch, aber sagen Sie bloß nichts. Sitzt dann in der Küche bei mir, beklagt sich ein bisschen und plappert, als wenn er losgelassen worden wäre. Ich denke ja, er muss zu Hause unentwegt Klara zuhören und kommt nicht zu Wort. Na, egal was ich mache, Kartoffeln schälen, Kuchen backen, ich höre zu und brauche nur die janze Zeit „Hm, ah ja, ja, verstehe … “ zu murmeln und Erwin redet wie uffjezogen. Irgendwann schreit dann Herbert aus dem Wohnzimmer.
„Erwin, ick hol jetzt den Heinz runter, wir spielen Skat und Hilde macht uns wat Leckeres!“
Pascha der, mein Herbert, so denkt er sich das und ich spure. Aber, und nun muss ich etwas leiser werden, ich freue mich, wenn Heinz runterkommt. Heinz, Heinz Heftig, wie er mit vollem Namen heißt, wohnt eine Etage höher. Junggeselle, Geschiedener! Ein Bild von einem Mann. Der Heinz ist so alt wie Herbert, aber ich sage Ihnen, er hat die Ausstrahlung von einem Romanow, so eine Charismatik. Ich komme von seinen schwarzen Augen nicht mehr los, wenn ich einmal hineingeschaut habe. Und es tun sich in mir Dinge, hören Sie nur auf, ich darf das gar nicht erzählen.
Wenn ich dagegen an den Erwin denke, den könnten Sie mir auf den Rücken binden, ich würde mich totrennen, wie eine Katze mit brennendem Schwanz. Ja, ja, ich schweife schon wieder ab … also, wenn der Herbert den Erwin ruft und den Heinz zum Skat runterholt, dann beginne ich zu glühen.
Ich werde den ganzen Abend dann nicht mehr kühl, als hätte ich aufsteigende Hitze, doch die ist ja lange vorbei. Na, egal!
Jedenfalls, der Heinz kommt zuerst immer in die Küche, bringt immer eine Kleinigkeit mit, Pralinen, Schokolade, Wein, sowas. Wie auch immer, stets charmant. Dann steht er mir so ganz dicht gegenüber und spricht mit dunkler Stimme: „Ach Hilde, so eine Freude, wieder einmal Gast zu sein.“ Dann wird mir schon schwummelig und meine Kniee zittern. Er greift so um mich, also da mehr unten in der Hüftgegend und zieht mich an sich. So ein Filou! Und flüstert mir ins Ohr. „Wenn Du allein wärst … ich würde … sag mal, Dein Herbert … aber was auch, ich habe ja, ich bin zu spät …“ und ähnlich in diesem Ton. Manchmal denke ich, ich werde gleich ohnmächtig wie Scarlett O´Hara … die kennen Sie doch, oder? Würde nur noch feines Riechsalz helfen, glauben Sie mir. So eine Kraft, so eine Ausstrahlung, so eine Macht hat dieser Heinz über mich. Das darf hier keiner wissen. Also bitte behalten Sie das schön für sich.
Dieser Heinz wohnt eine höher, hatte ich schon erwähnt? Manchmal möchte ich, wenn ich so vom Einkaufen komme, bei dem mir nun immer dieser nette Finn hilft, von dem ich Ihnen auch erzählt hatte. Den ich einmal in der Halle kennen gelernt habe und der immer so schlurft. Herrje! Na, jedenfalls, wenn ich vom Einkaufen komme, dann möchte ich gern eine Treppe höher laufen. An der Tür rütteln bis Heinz aufmacht, er mich umfasst und ins Schlafzimmer … ich schweife ab. Warten Sie, ich komme jetzt auf den Punkt.
Eines Tages klingelte es bei uns Sturm. Herbert machte keine Anstalten sich aus seinem Sessel zu erheben, könnte ja die dicke Luft darunter aufsteigen. Ich ging zur Tür, stand da Heinz mit hochrotem Kopf und hielt mir einen „Schlüpper“ hin. So einen richtigen „Schlüpper“ mit einem graubraunen Fleck, Schmierfleck würde ich vornehm sagen. Nein, ich würde das Ding „Slip“ nennen, wenn es ein Slip wäre oder Unterhose oder Boxer oder was weiß ich. Sie können sich meine Enttäuschung über diese Buxe nicht denken, die er bestimmt über den Bauchnabel zieht, dieser „Charismat mit Schlüpper“, brrrr. Na, wie auch immer, stand da, hielt die Hose hoch und zitterte und jammerte: „Hilde, sieh dir dit an, diese Kacke!“
„Ich sehe das, Heinz, du musst nicht ordinär werden, passiert mal, dass man ne Schleifspur inne Buxe hat, ab inne Waschmaschine, aber keinesfalls unter mein feines Näschen, was soll ich denn davon halten. Willst Du meinen Respekt verlieren, Heinz? Das gibt es doch nicht, weg mit dem Ding!“
„Nee, Hilde, du verstehst dit falsch. Das ist zwar meine Unterhose aber kiek doch ma jenauer hin, dat is Vogelkacke von Frau Vögele, von janz oben!“
„Heinz!“
„Wirklich, Hilde, ick schwör´s, ick habe auf dem Balkon die Wäsche uffjehängt und die Olle über mir hat wieder die Vögel jefüttert und bei mir kacken die sich aus, so dass ich nochmal waschen muss. Sie ist nich zu belehren“
„Heinz, erzähl mir doch nichts von Vögelei, wenn du mir deine dreckige Unterhose unter de Nase reibst. Das ist ja ekelhaft!“
„Hilde, du hörst nicht zu, es ist von der Vögele“
„Ich sach ja, Vögel, mehr sach ick nun nich mehr und nun weg mit de Buxe!“
Ich habe einfach die Tür zugemacht, so kann man sich doch im Flur nicht unterhalten und dabei sein Ideal verderben lassen, ich wollte nur noch an was anderes denken.
Plötzlich klingelte es wieder. Ich raus erneut zur Tür. Öffnete. Trällerte auf einmal ein Kinderchor auf meinem Absatz. „Amsel, Drossel, Fink uhund Star und die ganze Vogelschar … „
Ich so: „Moment! Genug von Vögeln heute, ich hab´s satt. Was ist hier los?“
Die Kinder schauten erstaunt, außer die eine etwas Größere in der letzten Reihe, kicherte wie eine Irre in ihre Hand hinein, spuckte förmlich beim Gackern. Trat ein junger Mann in mein Sichtfeld und meinte: „Richter, Julius Richter, wir kommen vom B.U.N.D. und wollten Ihnen einige Aufklärung zum Füttern von Vögeln in der warmen Jahreszeit in der Innenstadt anbieten.“
„Jetzt hören se doch mal mit der Vögelei uff, hält ja keen Mensch aus!“
Die Große aus der letzten Reihe kriegte sich gar nicht mehr ein und gackerte wie ein Huhn. Na, mein Herbert unkt immer: Die Ungedingsten gackern am lautesten! Voll in der Pubertät dieses Gör. Tönte der Bundeschorleiter: „Nein, Herr Heinz Heftig hat uns informiert, dass Sie die Vögel füttern, wo sie doch genug finden und ein Füttern jetzt eher schädlich ist und da wollten wir auf nette Art aufklären und haben auch einiges an Infomaterial mitgebracht.“
„Achso, jetzt versteh ick, woher der Wind pfeift. Na, dann jehn se mal nach oben unters Dach, da wohnt die Frau Vögele,“, ich guckte sofort das Mädchen in der letzten Reihe an, die wie erwartet losprustete und sich den Bauch hielt, was mich auch irgendwie zum Lachen brachte, „Und die, die füttert die Vögel. Hier fliegen nur noch Kugelbomben durch de Gegend, manchmal gegen meine Balkontür, was nicht schön endet!“
„Okay!“, sagte der Bundeschorleiter und machte den Kindern ein Zeichen, weiter die Treppen hinauf zu steigen. Ich lauschte noch kurz, bis sie ganz oben bei Elvira Vögele anfingen zu trällern. Dann machte ich die Tür zu.
Einige Tage später traf ich den Heinz. Der guckte bisschen nervös und ich erzählte ihm, dass welche vom Bund da waren, ein Chor! Und für Frau Vögele gesungen haben. Sagte der Heinz: „Hilde, B.U.N.D!“
„Wat haste für ein Problem, habe ich Bund falsch geschrieben, dass du buchstabierst?“
„Egal, Hilde, ist eben der B.U.N.D!“, und ging hinunter. Irgendwie gar nicht mehr mein Rasputin, dieser Heinz, dachte ich noch und trabte rein zu Herbert, da weiß ich ja wenigstens, woran ich bin.
Am ander´n Morgen klingelte Heinz wieder und das Feuer leuchtete in seinen Augen. Kam ganz dicht auf mich zu. Und fragte, ob ich am nächsten Tag so nett wäre und ins Café „Glück“ käme.
Mein Herz pochte und ich dachte sofort an heimliche Liebesschwüre, überlegte, wie ich das mit Herbert regeln würde, dass er nichts mitbekommt. Die Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Aber ick saje Ihnen, keen Wort, nich eins!
Sagte dann: „Heinz, gerne“, senkte dabei die Stimme, „aber nur, wenn du einen vernünftigen Slip anziehst.“ Er lachte: „Ja, ja, mach ick ja!“
Dann konnte ich den nächsten Nachmittag kaum erwarten und Herbert fragte, was mit mir los sei, als ich den Kannendeckel fallen ließ. Er behauptete sogar, die Kartoffeln wären versalzen, was natürlich nicht stimmte.
Als er sich dann zur Mittagsruhe legte, posaunierte ich, dass ich einkaufen ginge. In Vorbereitung auf den Nachmittag des nächsten Tages, wollte ich in die Stadt, eine neue Bluse kaufen. Ich glühte wie ein Bratapfel und eilte in Richtung Kaufhaus. Mein Weg führte an dem Café mit dem verheißenden Namen vorbei. Ich blieb kurz stehen und schaute durch die Scheibe, um zu träumen, wo ich am nächsten Tag mit Heinz sitzen würde.
Da erblickte ich ihn auch! Mir stockte der Puls, ich hielt die Luft an. Saß er dort mit der Elvira Vögele von unterm Dach, hielt Händchen und stierte mit seinen glühendsten Augen, wie Doktor Schiwago, in Elviras Glubschen, dass die schon ganz hypnotisiert aussah.
Na, ich sofort auf dem Absatz kehrt, dafür war ich mir zu schade und eine neue Bluse benötigte ich nun auch nicht mehr. Auf dem Heimweg musste ich über mich selber lachen. Und ich gackerte wie das alberne Chormädchen vom Bund über den Gedanken, wie Heinz Heftig und Elvira Vögele nach einer Hochzeit mit Doppelnamen heißen würden … Prost Mahlzeit!